63,75 - Wiesbaden

Wiesbaden: Die unbekannteste Mittelgroßkleinstadt Deutschlands. Kein Mensch kennt auch nur ein Gebäude, ein Wahrzeichen, eine Person aus Wiesbaden. Die Weltgeschichte weiß von keiner Schlacht bei und keinem Frieden von Wiesbaden, die Stadt scheint im Windschatten aller anderen gemütlich, wohlhabend und ein bisschen langweilig dahinzuexistieren, so schattig, dass man bisweilen daran zweifelt, ob sie wirklich existiert. Dann aber bekommt man Post von jemandem, der behauptet, tatsächlich in einem anscheinend doch vorhandenen Wiesbaden zu leben, dort ein prachtvolles Magazin namens Stijlroyal herauszugeben, und für die nächste Nummer Geschichten von Autoren über Orte in eben diesem Wiesbaden zu sammeln. Der Clou an der Sache, so diese Person weiter, sei, dass keiner dieser Autoren je vor Ort gewesen sei und abgesehen von einem zerknautschten Foto nur ein äußerst dürres Briefing bekäme.

Jetzt ist das Heft fertig geworden, es ist noch prachtvoller als die davor, es ist mit seinem riesigen Format A3 so groß wie 0,00001747 Fußballfelder und heisst 63,75 weil darin 63 Autoren über 75 Orte geschrieben haben. Man kann es hier kaufen.

Das Briefing für "meinen" Ort: Ein Foto eines Steinlöwen auf einem Berg, darunter die Stadt, in der Nähe ein abgebranntes Hotel, der Name "Neroberg". Und das wurde daraus:

 

Der Neroberg

Leise glitten die heckflossigen Limousinen in die Schwärze der Spätsommernacht des September 1962 davon. Dr.Schattenkobler schaute ihnen nach, bis sie vom Heckenrosenweg in die Goldregenallee einbogen. Leicht klang noch ein Rest Bedauern in ihm nach, sich ihnen nicht angeschlossen haben auf dem Weg in die "Schwarze Dahlie" in Bad Homburg, deren Adresse er Bryant diskret zugesteckt hatte. Das geschäftige Klirren hinter ihm riss ihn aus diesen Gedanken. "Hildegard", sagte Dr.Schattenkobler, als er die Tür wieder hinter sich schloss. "Ich glaube, dieser Abend war der Wendepunkt in meiner Karriere." Hildegard blickte nur kurz vom Einsammeln der übrig gebliebenen Kanapees auf. "Lass dich nicht wieder über den Tisch ziehen", sagte sie und verschwand mit den angetrockneten Ruinen der Käsehäppchen in Richtung Küche.

Dr.Schattenkobler, so viel war klar, würde sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Seine Karriere bei der Opel AG war steil verlaufen, und er hatte nicht vor, das zu ändern. Denn Dr.Schattenkobler hatte einen Plan, der die junge Bundesrepublik an die Speerspitze katapultieren würde. Darin hatte ihn dieser Abend nur bestärkt. Der Raketenantrieb, getestet in der Wüste Nevadas, würde funktionieren, das hatten ihm Bryant und seine Techniker versichert. Der Vertrag war unterzeichnet. Nun galt es nur noch, einen Namen für das Baby zu finden.

Der weltpolitische Gehalt und die statusgesättigte Autorität von Opel Admiral, Opel Kapitän und Opel Diplomat war schön und gut, doch ein Raketenwagen musste mehr wollen. Warum nicht royalistisch? Opel Wilhelm? Opel Karl-der-Große? Zu bieder. Opel Ramses? Opel Cäsar? Schon besser. Letztendlich musste auch der Werksstandort in Frage gestellt werden, dachte Dr.Schattenkobler, als er neben Hildegard in die Kissen sank. Er war sich sicher, bei mehreren Mitgliedern der Delegation aus Tschikago ein herablassendes Kichern vernommen zu haben, wann immer er das Wort "Rüsselsheim" erwähnte. Diese Amis. Seit Kennedy Präsident war, schien ihm, traten sie noch unverfrorener auf.

An einem Rüsselsheimer Morgen im Sommer 1963 ergriff Vorstandschef Bleyle im Konferenzsaal im 12.Geschoss das Wort. "Meine Damen und Herren..." Schattenkobler rutschte zappelig wie ein Kind auf dem Ledersessel hin und her. „Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte der Bundesrepublik und ihrer Wirtschaft. Morgen schon wird die Welt unterwegs zum Mond sein, und wir sind heute schon dabei! Meine Damen Herren: Das erste Automobil mit Raketenantrieb, der Opel Nero!“

Staunend beugten sich die Herren über die Entwurfszeichnungen. Der Luxemburger Chefdesigner René Lützinger hatte ganze Arbeit geleistet. Das größte Lob wurde jedoch Dr.Schattenkobler zuteil, der das Projekt unermüdlich vorangetrieben hatte.

Man habe bereits Anfragen bekommen, so Bleyle. Ein Herr Broccoli habe angerufen, für seine Filmreihe über einen britischen Geheimagenten käme ihm ein Raketenauto sehr gut zupass. Ein 20-Jahre-Vertrag mit der Firma Opel liege schon auf dem Tisch. Diverse afrikanische Diktatoren hätten Sammelbestellungen angekündigt.

Bleyle ließ Champagner kommen. Vor Dr.Schattenkoblers geistigem Auge nahm die Zweitvilla am Lago Maggiore immer schärfere Konturen an. Hildegard vertrug das südliche Klima zwar nicht und bevorzugte kleine Reetkaten auf Amrum im windigen Frühherbst, aber sie würde damit zurecht kommen müssen. Heute Wiesbaden, morgen Lago, 1970 vielleicht schon New York, Los Angeles, Buenos Aires.

Dr.Schattenkobler, Bleyle und der Opel-Vorstand fielen in einen mehrmonatigen Zustand ungehemmter Euphorie. Lange Nächte in der Schwarzen Dahlie und bei Anita im Cabaret Monique, Weinbrandbohnen und Schweinskopfsülze bis zum Abwinken im Hinterzimmer des "Frankfurter Hof", Badewannen voller Äbbelwoi, Exkursionen in den Hochtaunus.

Ein halbes Jahr später, in Halle 11, die Vorstellung des Prototyps. Mit einem hintergründigen Lächeln, das Schattenkobler nicht ganz einordnen konnte, reichte ihm Lützinger die Schlüssel des Erlkönigs. „Wer sonst als Sie, der Vater des Nero, könnte die Jungfernfahrt absolvieren!“

Im Nu lag Rüsselsheim hinter ihm, wie an der Schnur gezogen durchmaß er die stillen Handkäsedörfer der Rhein-Main-Ebene. Die Wiesbadener Alleen mit ihrem bedächtigen Kurstadt-Tempo wurden erfüllt von kaiserlichem Röhren. Gichtgeplagte Greisinnen griffen entsetzt ihre in Panik verfallenen Schoßhündchen. Hinter den offenen Fenstern der Anwaltskanzleien wurden wichtige Ferngespräche unterbrochen.

Dr.Schattenkobler nahm die Abzweigung zum Hotel Waldesruh, hoch über der Stadt, die Serpentinen hinauf. Kurz vor dem Gipfel kam der Moment, auf den er gewartet hatte. Er legte den Schalthebel auf „R“, wie es ihm Lützinger erklärt hatte. Das war das letzte, an das er sich erinnern konnte.

Dem außergewöhnlich feuchten hessischen Herbst 1963 war es zu danken, dass er nur mit Prellungen, Schürfwunden und Gehirnerschütterung davonkam, denn aus dem sich binnen Mikrosekunden zu Nichts zusammenfaltenden Nero wurde er in ein erst eine Woche zuvor entstandenes sumpfiges Feuchtgebiet katapultiert, das seine Flugbahn erheblich schonender dämpfte als es der felsige Untergrund ein paar Meter weiter getan hätte.

Das Wrack wurde in einer Nacht- und Nebelaktion von zu ewiger Verschwiegenheit verpflichteten Akkordarbeitern an Ort und Stelle im Boden versenkt. Um die peinliche Episode der Firmengeschichte ein für alle Mal vor der Geschichte zu verbergen, ließ Bleyle seine Verbindungen zur Wiesbadener Stadtregierung spielen. Ein dreieinhalb Tonnen schwerer Löwe, der ursprünglich vor dem Eingang der städtische Wasserwerke gestanden hatte, bevor diese einem zwölfgeschossigen Neubau weichen mussten, wurde von drei taubstummen Gehilfen des Denkmalamts exakt auf dem Grab des zertrümmerten Raketenwagens abgesetzt.

Ob die Wahrheit in Wiesbaden oder Rüsselsheim durchgesickert war, wird wohl nie geklärt werden, aber jemand musste sein Schweigen gebrochen haben, denn der Name „Neroberg“ tauchte nur wenig später im Wiesbadener Lokaljargon auf.

Bei der Opel AG wurden alle Spuren des Nero entfernt, inklusive Dr.Schattenkobler. Hildegard reichte die Scheidung ein, wortlos packte sie ihre Sachen, viel war es nicht, die Koffer passten in den Fond von Lützingers Mercedes Cabrio, das vor dem Haus wartete, vollgetankt für die Fahrt nach Sylt.

Dr.Schattenkobler musste die Villa versteigern lasse, doch er gab nicht auf. 1975 wechselte er in die Hotelbranche, ein günstiger Kredit, den ihm Professor Berzelmeier, sein Golfclubkollege von der Commerzbank, eingefädelt hatte ermöglichte ihm den Kauf des Hotel Waldesruh. Das Glück war nicht von langer Dauer. Die Nähe zur Stelle seines automobilen  Scheiterns zermürbte sein Gemüt, und kaum waren die Grünen 1984 in der Landesregierung, wurde in ganz Wiesbaden Tempo 30 eingeführt. Über Nacht blieb die Cabrio-affine Kundschaft dem Hotel Waldesruh fern. Die Champagnervorräte verstaubten im Keller, und es fiel Dr.Schattenkobler persönlich zu, sie zu vernichten. Davon sollte sich nicht mehr erholen. Bald darauf brannte das Hotel unter ungeklärten Umständen bis auf die Grundmauern nieder. Von Dr.Schattenkobler sah und hörte man nie wieder.

Heute trifft sich die behütete Jugend des Taunus an dieser Stelle, um aus hochgeklappten Polohemdkrägen auf die Stadt zu blicken, bevor sie zum Gartenfest der Jungen Union aufbricht. Die Erdbeerbowle auf Fanta-Basis, sagt man, sei legendär dort. Kurz nachdem sie verschwunden sind, pflegt die weniger behütete Jugend aufzutauchen. Diese räkelt sich hier auf den tickenden Motorhauben ihrer verbrauchsarmen Kleinwägen. Aus den Boxen tönen Westcoast-Walkürenritt und Industrieschlager. Dann zünden sie ihre Crackpfeifchen an und träumen, dass die Stadt unter ihnen in Flammen aufgeht.

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