Das Licht unter Tage

Mit ihrem Neubau des Schlesischen Museums im polnischen Katowice schufen die Grazer Architekten Riegler Riewe ein kulturelles Bergwerk im Untergrund

Schweigend deutet die bejahrte Museumswärterin auf einen der 24 Sitze, die um die riesige hölzerne Trommel angeordnet sind. Fügsam setzt man sich, dann drückt sie mit dem Fuß auf den Schalter am Boden. Es beginnt zu sirren und zu rattern. Schaut man durch die doppelten Gucklöcher, schieben sich plastische, schwarzweiße Bilder von rechts nach links durch, manchmal holpern und verrutschen sie leicht. Was hier so rührend mechanisch rattert, ist ein über 100 Jahre altes Stereoskop im Schlesischen Museum im polnischen Katowice. Die Fotos zeigen rußverschmierte Bergmänner, katholische Nonnen, Gründerzeit-Bauten der boomenden Industriestadt um die Jahrhundertwende, die um 1850 noch ein Dorf war, aber auch Bauten aus der jungen polnischen Republik der 1920er-Jahre wie den expressionistischen Wolkenkratzer Drapacz Chmur.

Auch heute findet man noch reichlich rußgeschwärzte Fassaden in Schlesien, aber sie verschwinden zusehends. Zwar prägt der Bergbau in der 300.000-Einwohner-Stadt noch die Identität, aber riesige Brownfields zerfallender Schwerindustrie künden auch hier vom Ende einer Ära. Ähnlich wie in Bilbao, Manchester oder dem Ruhrgebiet ist der Wechsel zu Dienstleistung, Kultur und Bildung längst im Gange.

Auch das Schlesische Museum ist nicht mehr zeitgemäß. Ein Provisorium ist es schon immer gewesen, seit 1984 untergebracht im ehemaligen Grand Hotel Wiener, einem charmanten, aber verwinkelt verstaubten Bau aus der Jahrhundertwende. Dabei hatte es schon einmal ein neues Schlesisches Museum gegeben, fertig wurde es leider nie. Der Bau aus den 1930er-Jahren, ein Monument des wiederentdeckten Polentums im 1922 von Deutschland abgetretenen Oberschlesien, wurde noch vor der Fertigstellung, wenige Tage nach dem Überfall der Nationalsozialisten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939, von diesen zerstört.2005 begann der Neustart: Man erwarb das Grundstück der ehemaligen Zeche "Katowice", direkt im Norden des Stadtzentrums gelegen. Hier soll eine neue Kulturmeile entstehen, beginnend beim riesigen gekippten Ufo der Veranstaltungshalle Spodek von 1971. Ein Kongresszentrum und eine Konzerthalle für das lokale Sinfonieorchester sind zurzeit in Bau. Den Wettbewerb für das östlich anschließende Schlesische Museum gewann 2007 das Grazer Büro Riegler Riewe, bekannt etwa für ihren Neubau des Hauptbahnhofs Innsbruck, das Literaturhaus Graz und mehrere Messe- und Laborgebäude.

Gemeinsam mit dem Universitätsviertel, das sich auf der anderen Seite der achtspurigen Stadtautobahn anschließt, entsteht so ein Zentrum des postindustriellen Schlesien und eine Art Leistungsschau der neuen polnischen Architektur, die sich in den letzten Jahren dank der guten Wirtschaftslage und mit Auslandserfahrung zurückgekehrter Architekten weltläufiger entwickelt hat als in den ehemals sozialistischen Nachbarländern.

Museumsräume im Untergrund

Doch anders als das vom polnischen Büro HS99 entworfene, preisgekrönte ziegelrote Scientific Information Centre and Academic Library gegenüber will der österreichische Entwurf für das Schlesische Museum keine laute Landmarke sein. Das ist eine kluge Entscheidung, denn eine solche würde in einer Umgebung, die nur aus zusammenhanglos verstreuten Einzelbauten besteht, ohnehin kaum auffallen. Stattdessen wurden die rund 26.000 Quadratmeter Museumsräume fast komplett im Boden versenkt. Die naheliegende Assoziation zu Bergwerk und Stollen sei aber ein Nebeneffekt, sagt Mikolaj Szubert-Tecl, Leiter des Büros Katowice von Riegler Riewe. "Wichtig ist vor allem, dass das Museum die noch bestehenden Gebäude nicht verdeckt." Neben dem - schwer zu verdeckenden - erhaltenen Förderturm sind dies eine Handvoll Nebengebäude, von denen zwei als Werkstatt bzw. Restaurant umgenutzt wurden, die anderen verharren noch ruinenromantisch im Dornröschenschlaf.

Um diese Ziegelbauten wurde ein neuer Park angelegt, darin verstreut einige Kuben aus geätztem Glas: Ganz diskret und sachlich bezeugt so das neue Schlesische Museum seine Existenz. Über die Dimension seiner Räume schweigt es sich von Außen komplett aus. Mit dieser Spannung spielt der Bau gekonnt: Mehrere Parcours von Wegen sind durch und um die weiß gehaltenen Räume im Untergrund gelegt, die aus mehreren Richtungen und Tiefenlevels begehbar sind.

Gläserne Boxen als Lichtleiter

"Ermöglichungsarchitektur" haben es Florian Riegler und Roger Riewe genannt: Auch Zugänge zum Museum gibt es mehrere, der aufregendste davon ist der Nebeneingang in den hallenartigen Raum für Wechselausstellungen. Ein sich über mehrere Ebenen in vielen 90-Grad-Winkeln in die Tiefe wühlender schmaler Gang, der für wohlige Desorientierung sorgt. Der Haupteingang mit seinen beiden ineinander verschränkten, von der Decke abgehängten Doppelrampen leitet dagegen mit spielerischer Erhabenheit in den Untergrund. Und damit in diesen Kulturflözen keine Klaustrophobie entsteht, fungieren die gläsernen Boxen als Lichtleiter: Sie ragen unterschiedlich tief in die Räume hinein und verstreuen bläuliche Helligkeit. "Zuerst waren viele skeptisch, aber sobald sie drinnen waren, waren alle begeistert", sagt Szubert-Tecl.

Noch sind allerdings keine Besucher drinnen, auch auf die Exponate wartet das Museum noch. Zwar ist das Gebäude (Kosten rund 66 Mio. Euro, 85 Prozent davon durch EU-Förderung) schon seit Monaten fertig, doch die Museumsplanung hinkt hinterher: Der Eröffnungstermin wurde immer wieder verschoben, auch der Herbst 2014 konnte nicht gehalten werden. Im Juli wurde der erst ein Jahr zuvor berufene Direktor Dominik Ablamowicz seines Amtes enthoben. Es sei ihm nicht gelungen, ein funktionsfähiges Konzept auf die Beine zu stellen, hieß es vonseiten der Landesverwaltung. Ihm folgt nun die museumserfahrene Direktorin Alicja Knast nach.

Vor 2015 ist nicht mit der Eröffnung zu rechnen. Zumindest das Auditorium wird aber bereits vermietet: Ende August steigt ein Musikfestival im glasboxbeleuchteten Untergrund. Und für die schlesischen Nostalgiker dreht sich immer noch das ratternde Stereoskop im Altbau.

Erschienen in: 
Der Standard, 16./17.8.2014