Dicht bebaut ist die Stadt erst lebenswert

Ob New York, Neubau oder Aspern: Die verdichtete Stadt gilt heute mehr denn je als Erfolgsrezept für urbane Lebensqualität. Ein opulentes Buch zur Stadtbaugeschichte, das bereits vor einigen Monaten erschien, und ein brandneuer Architekturführer für Wien legen dafür handfeste Beweise vor.

„Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass die Mehrzahl der Menschen lieber in einer Großstadt wohnt als auf dem Land. Erwerb, gesellschaftliche Stellung, Komfort, Luxus, Zeitvertreib im guten wie im schlechten Sinne und schließlich die Kunst sind Motive dieser Erscheinung.”
Der Mann, der sich hier für großstädtische Urbanität in die Bresche wirft, heißt Otto Wagner und hat als Architekt und Stadtbaudirektor in Wien wie kein anderer alles dafür getan, die genannten Vorteile des Metropolenlebens zu vermehren. Von der Genialität, mit der Wagner den Ingenieursgeist enormer Infrastrukturprojekte wie Stadtbahn und Wienflussregulierung mit der repräsentativen Stadtbürger-Eleganz seiner Architektur verband, profitiert Wien noch heute.

Jetzt, da Wien neuesten Prognosen zufolge immer schneller auf die 2-Millionen-Einwohner-Marke zusteuert, ist die Frage der Urbanität wieder in den Mittelpunkt der Debatten gerückt. In den großen Stadterweiterungen wie der Seestadt Aspern, dem Nordbahnhof und dem Sonnwendviertel am neuen Wiener Hauptbahnhof wird auf Stadtblocks mit hoher Dichte gesetzt.
Nicht nur weil man die tausenden Zuzügler pro Jahr ja irgendwo unterbringen muss, sondern weil es ein bewährtes Modell ist. Eine dicht bebaute Stadt ist eine lebenswerte Stadt, heißt es bei den Stadtplanern. Dichte Städte haben kürzere Wege, die man ohne Auto zurücklegen kann, verschwenden weniger Platz, haben die bessere Kultur und die besseren Shops, weil auf engem Raum mehr Leute wohnen, die sich für diese Dinge interessieren. Manche bekommen in den engen Wohnhöfen der neuen Stadtviertel Platzangst und flüchten in periphere Häuslbauerwelten, doch für die Mehrzahl bleibt die Attraktivität des Zusammenlebens auf engem Raum ungebrochen.

Die Geburtsstunde der Peripherie

Das war nicht immer so. Kaum waren die Städte zu Zeiten der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts explosionsartig gewachsen, begannen die Debatten zwischen jenen, die vom Urbanen fasziniert, und jenen, die davon abgestoßen waren.
In England entstanden neue Gartenstädte, die behaupteten, das Beste von Stadt und Land in sich zu vereinigen: die Geburtsstunde der Peripherie. Für andere vereinigte der Mischmasch am Stadtrand dagegen das Schlechteste beider Welten: kein Opernhaus ums Eck, aber auch keine malerische Schafweide. Stattdessen missgünstige Mitmenschen hinterm Gartenzaun.
Oder, um nochmals Otto Wagner zu zitieren: „Die Anzahl der Großstadtbewohner, welche vorziehen, in der Menge als ,Nummer‘ zu verschwinden, ist bedeutend größer als die Zahl jener, welche täglich ein ,Guten Morgen‘ oder ,Wie haben Sie geschlafen‘ von ihren sie bekrittelnden Nachbarn im Einzelwohnhaus hören wollen.”
Nach diesen Gründerzeitdebatten folgte ab den 1920er-Jahren der moderne Städtebau, der Arbeitsstadt und Wohnstadt säuberlich und hygienisch voneinander trennte und den Zwischenraum mit Parks und Schnellstraßen füllte. Ikonisches Bild dieser Ära: der „Plan Voisin” von Le Corbusier (1925), der das Pariser Straßengewirr durch ein Raster von Wolkenkratzern ersetzen wollte.
Zwar blieb Paris davon verschont, doch der moderne Städtebau mit seinen Schlafstädten am Stadtrand, seinen Stadtautobahnen und dem Abriss von Altbauten trat vor allem nach 1945 weltweit seinen Siegeszug an. Die vom Weltkrieg teilzerstörten Innenstädte boten den Planern die langersehnte Tabula rasa.
Die Wende zurück zur Urbanität ist mit ebenso ikonischen Meilensteinen markiert: der streitbaren Jane Jacobs, die 1961 mit ihrem Warnruf-Buch „Death and Life of ­Great American Cities” in der Hand in Manhattan gegen die Zerstörung von Stadtvierteln wie Greenwich Village kämpfte, der ersten Sprengung von modernen Wohnblocks in Chicago 1972, der Ölkrise 1973 und dem Ende des Autos als Hauptakteur der Stadtplanung. Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde Stadtrekonstruktion betrieben – mit dem Erfolg, dass die dicht bebauten Innenstädte heute paradoxerweise so attraktiv sind, dass sie zum Wohnen zu teuer werden.

Was bedeutet Urbanismus?

Zusammengefasst: Gründerzeit gut, Moderne böse, Postmoderne gut. So jedenfalls der Kanon der Stadtbaugeschichte. Einen anderen Blickwinkel erlaubt sich das massive Werk „Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts” von Wolfgang Sonne, das diesem von sauberen Schnitten geteilten 3-Phasen-Modell ein Kontinuum als Gegengeschichte entgegensetzt.
Die These: Die dicht bebaute, komplexe Stadt hatte zu jeder Zeit ebenso ihre Befürworter wie die aufgelockerte moderne, und die Faszination für Straße, Gasse, Platz und Hinterhof ist seit jeher ungebrochen. Der Streit darüber, was „Urbanismus” genau bedeutet und ob und wann er etwas Gutes ist, ist inzwischen gut 120 Jahre alt, und die Kritik an den Heilsversprechen der Moderne ist so alt wie diese selbst.
Während Le Corbusier, selbst in der braven schweizerischen Kleinstadt La ­Chaux-de-Fonds aufgewachsen, sein Misstrauen gegenüber dem verwirrenden Großstadtmoloch in aufgeräumte Bereinigungspläne münden ließ, wurde in Großbritannien, der Heimat der Gartenstadtbewegung, ein Formenkanon des distinguiert Städtischen erstellt – mit einem sehr britischen Maßstab: „Häuser müssen sich zu benehmen wissen.”
Technokratisches war hier ebenso ungern gesehen wie rustikale Landromantik. Das London County Council (LCC) errichtete in der Zwischenkriegszeit zahlreiche städtische Wohnblocks, die in ihrer Dichte und Gestalt ebenso eindeutig urban waren wie die Gemeindebauten des Roten Wien, die im Bildband ausführlich zu Wort und Bild kommen. Auch in Mailand, Paris, Amsterdam und Skandinavien baute man ungerührt mit den bewährten Bausteinen Straße, Platz und Block an der Stadt weiter.
Sogar ein sorgfältig platziertes Hochhaus durfte dabei sein. Ein ganzes Kapitel ist diesem gewidmet: der mit maximalem Wow-Effekt in die Straßen Manhattans hineingesetzten dünnen Scheibe des Rockefeller Center oder den „urbanisierten Wolkenkratzern” in Stockholm, Düsseldorf und Moskau. Vergleicht man diese klug an die richtige Stelle gesetzten Hochhäuser der 1920er-Jahre mit den wie per Zufallsgenerator über Wien verstreuten Wolkenkratzern jüngsten Datums, sind wehmütige Stoßseufzer angebracht.
Auch als nach dem Zweiten Weltkrieg der Massenwohnungsbau richtig durchstartete, gab es Gegenstimmen wie Gegenmodelle: In Berlin beklagte der konservative Publizist Wolf Jobst Siedler die „gemordete Stadt”, in Frankfurt der Soziologie Alexander Mitscherlich die „Unwirtlichkeit unserer Städte”. Nicht ohne Erfolg. Wenige Jahre später begannen die ernsthaften Stadtreparaturen.
Heute assoziiert man mit dem Wort „urban” keine chaotischen Dystopien mehr, es ist als Wohlfühlwort sowohl in Stadtentwicklungsplänen als auch in Marketingbroschüren der Immobilienbranche zu Hause. Otto Wagner hat, fürs Erste, gesiegt. Als fundiertes und prachtvoll illustriertes Kompendium von über einem Jahrhundert Stadtfaszination ist „Urbanität und Dichte” für Stadtplaner ebenso lesenswert wie für Laien.

Wien ist mehr als Otto Wagner

Für die Freunde einer ganz bestimmten Großstadt ist zudem ein neuer Architekturführer erschienen: Der Wien-Führer von DOM Publishers bietet ebenfalls sowohl dem Altmeister Otto Wagner als auch der Renaissance des Urbanen breiten Raum. Ein lückenloses Nachschlagewerk will der Führer dabei gar nicht sein, diese gibt es schließlich bereits. Stattdessen werden in acht thematischen Rundgängen Einzelaspekte beleuchtet.
Das Kapitel „Wiener Kontroversen” ist dabei am spannendsten – hier werden Bauten vorgestellt, die in der Vergangenheit zu heftigen Debatten geführt haben, vom Haashaus (zu opulent!) und Looshaus (zu wenig opulent!) über Wien Mitte und das Museumsquartier bis zum Hundertwasserhaus. Das kurze Kapitel, das den Bauten im Tierpark Schönbrunn gewidmet ist, wäre im Vergleich dazu nicht unbedingt nötig gewesen, schließlich ist die Zooarchitektur dort bestenfalls solide und dürfte Architekturfreaks, die kein animalisches Interesse haben, kaum nach Schönbrunn locken.
Geradezu opulent und reich bebildert kommt dagegen das Kapitel zu Otto Wagner daher. Keine Frage: Dem Stadtbaumeister kann man nie genug Platz in Architekturführern einräumen. Die zwei Seiten Lob über die „Schmankerln”, die im Restaurant in Wagners Schleusenhaus am Donaukanal serviert werden, hätte man sich allerdings sparen können.
Trotz aller Detaildichte und Recherche erweckt dieser Architekturführer bisweilen den Anschein des hastig Zusammengestellten, etwa wenn das Hotel Hilton in der Bildunterschrift als „Hochhaus Herrengasse” tituliert oder der City Tower (ein absolut würdiger Eintrag im Kontroversen-Kapitel) den Architekten Ortner & Ortner anstatt Neumann & Steiner zugeschrieben wird.

Wie sieht Wien 2030 aus?

Die Sorgfalt im Lektorat mag etwas mangelhaft ausgefallen sein, dafür kann der Führer mit Aktualität punkten: Ausführlich und informativ werden im Kapitel „Wien 2030” die neuen Stadtviertel in Aspern, am Hauptbahnhof und am Nordbahnhof vorgestellt, die zu jung sind, um schon in früheren Architekturführern gewürdigt worden zu sein.
Vor allem im Nordbahnhofviertel sind schließlich in den letzten Jahren zahlreiche Wohnbauten von hoher Qualität entstanden. Für die Seestadt Aspern kommt das Buch fast noch zu früh, hier befinden sich die meisten vorgestellten Häuser noch in Bau oder im Planungsstadium.
Zwar lesen sich die Kapitel zu den neuen Stadtentwicklungsgebieten ein bisschen wie eine Werbebroschüre des Magistrats (auch Planungsdirektor Thomas Madreiter von der MA 18 ist mit einem Textbeitrag vertreten), aber als kompakte, informative Übersicht füllen sie in unterhaltsamer Form eine Lücke im derzeitigen Wienführer-Repertoire – und stellen damit ein weiteres Beweismittel für den Erfolg der urbanen Dichte dar.

Erschienen in: 
Falter 41/2014, 4.10.2014