Eine Trutzburg für die Kunst: Die New Tate Modern in London

Die Londoner Tate Modern expandiert und wird zur New Tate Modern. Mit ihrem kantigen Turm aus Beton und Ziegeln setzen die Architekten Herzog und de Meuron dabei auch ein Zeichen gegen den Ausverkauf der Stadt

Designermöbel, wie mit dem Lineal arrangiert: Die vollverglasten Panoramawohnzimmer sind so perfekt, dass sie wie übereinandergestapelte Schaufenster wirken. Wer hier wohnt, zeigt, was er hat, Geschmack aus dem Katalog. Das Penthouse in den Luxustürmen von Neo Bankside in zweiter Reihe am Südufer der Themse, entworfen von Richard Rogers, kostet rund 27 Millionen Euro. Von vielen Londonern scharf kritisiert als Paradebeispiel einer Entwicklung des Wohnens vom Grundbedürfnis zur Währung für Spekulanten, ist nur eines von vielen spiegelverglasten Investorenprojekten an der South Bank, allesamt überragt von der 310-Meter-Pyramide des "Shard".

Doch jetzt haben die Bewohner von Neo Bankside einen neuen Nachbarn bekommen: die Londoner Öffentlichkeit. Denn genau zwischen ihren Sofas und dem Flussufer liegt die Tate Modern, seit dem Jahr 2000 in der wuchtigen Industriekathedrale des ehemaligen Bankside-Kraftwerks aus den 1950er-Jahren untergebracht. Ein Erfolg von Anfang an, mit fünf statt der erwarteten zwei Millionen Besucher pro Jahr. Schon 2004 war klar, dass man expandieren musste. Der einzig mögliche Ort dafür: im Süden der großen Turbinenhalle, die sich als halböffentlicher Vorraum der Kunst einen festen Platz im Londoner Leben erobert hat. Dort, wo im Untergeschoß zwei riesige runde Öltanks schlummern, erhebt sich jetzt ein zehngeschoßiger Anbau: die New Tate Modern, die gestern, Freitag, nach sechs Jahren Bauzeit eröffnet wurde. Die schon für den Altbau verantwortlichen Schweizer Architekten Herzog und de Meuron hatten zwar zuerst einen wilden Stapel verglaster Boxen vorgesehen, doch als sie sahen, wie ringsum die verspiegelten Luxustürme aus dem Boden schossen, entschieden sich die Architekten für eine Kehrtwende.

Mit seiner Fassade aus Ziegelsteinen, die aus dem alten Kraftwerk herauszuwachsen scheinen, nur unterbrochen durch schmale schießschartenartige Fensterbänder, ähnelt der Neubau einem wuchtigen Wachtturm. Die Fassaden kippen in spitzen und stumpfen Winkeln zurück, das Resultat ist eine Art Kreuzung aus Zelt, Pyramide und Turm. Nach Norden blickt der wuchtige 64-Meter-Anbau der alten Tate Modern über die Schulter, direkt zur Sankt-Pauls-Kathedrale auf der anderen Seite der Themse. Gekrönt wird der Turm von einer Aussichtsplattform, die sich mit Sicherheit sofort zum selfiesatten Fixpunkt für London-Touristen entwickeln wird.

Fünf Etagen tiefer bietet sich durch die Schießscharten ein wunderbarer Blick auf die fast zum Greifen nahen Luxuswohnzimmer der Bewohner von Neo Bankside. Das finde sie auch sehr lustig, sagt Anna Cutler, Director of Learning bei der Tate, die das Programm für das heute noch leere Loft entwickelt hat. Ab September werden hier unter dem Motto "Tate Exchange" offene Foren für Künstler, Besucher und Institutionen stattfinden. Eine symbolische Geste, dass gerade hier, wo jedes handtuchgroße Grundstück begierige Blicke von Developern erntet, kostbare Quadratmeter für Diskussionen über Kunst reserviert werden. Ihr Stockwerk hat Anna Cutler jetzt schon liebgewonnen: "Den Architekten ist es gelungen, hier einen Raum zu schaffen, der gleichzeitig offen und geschützt ist".

Den Architekten begegnet man vier Stockwerke weiter unten, und während der extrovertierte Jacques Herzog scharf gestikulierend in Fernsehkameras redet, blickt sein stillerer Partner Pierre de Meuron versonnen nach oben, wo sich die glatt betonierten Brüstungen der neuen Galeriegeschoße übereinandertürmen.

"Die nach hinten gekippte Fassade vermeidet natürlich auch die Verschattung der Nachbargebäude", erklärt er auf Anfrage des STANDARD. "Vor allem aber ist sie eine bewusste Zuwendung zum alten Kraftwerk. Eine senkrechte Fassade hätte eine direkte Beziehung zu den Nachbarn im Süden hergestellt. Das wollten wir nicht." Also zum Kollegen Richard Rogers? Die Frage wird mit einer helvetisch-diplomatisch gehobenen Augenbraue beantwortet. Es ist ein schönes Paradox, dass sich das Haus für die Öffentlichkeit nach außen in einer Art aggressiver Introvertiertheit trutzig und abweisend gibt, während seine Nachbarn ihre Privatheit hinter Glas ausleben. Mit Überraschungen zwischen außen und innen zu spielen, war schließlich schon immer eine Spezialität von Herzog und de Meuron. Hier bieten sich diese Überraschungen vor allem auf dem Weg nach oben. Aus den ruppig-roh belassenen alten Öltanks schraubt sich eine massiv betonierte Wendeltreppe nach oben, gefolgt von einem mal engen, mal weiten, sich nie wiederholenden Zickzack durch die Stockwerke. Einen "vertikalen Boulevard" haben die Architekten diesen Erlebnisparcours genannt. Boulevardeleganz ist ihm eher nicht zu eigen, eher ein Bohren durch ein tonnenschweres Bergmassiv der Kunst.

Die Leichtigkeit liefert – schon wieder so ein schönes Paradox – ausgerechnet die Fassade aus Ziegelsteinen, die wie eine durchlöcherte Tapete über das Haus gezogen ist und deren Schattenspiel von innen fast arabisch anmutet. Die Größe der Lücken zwischen den Steinen folgt jedoch nicht jahrhundertealten ästhetischen Maximen, sondern hat einen sehr trocken-britischen Grund: Sie sind dank Konsultation eines Ornithologen gerade so groß, dass sich darin keine Tauben ansiedeln können. Schade nur, dass die etwas plump geratenen Rahmen der in die Ziegeltapete eingeschnittenen Panoramafenster diese Schweizer Präzision vermissen lassen. Ungehinderten Weitblick bietet dagegen die in schwindelerregender Höhe durch die Turbinenhalle gesteckte neue Brücke, die Altbau und Anbau verbindet. Nach unten geht der Blick auf wuselnde Schulklassen, staunende Touristen und Londoner mit Mitnehmkaffeebechern in der Hand, die hier eine Pause einlegen.

Alte Tate Modern und neue Tate Modern vereinigen sich so zu einer Trutzburg der Offenheit, einem Schutzraum der Kunst. Ein extrovertiert fuchtelndes "signature building" Marke Guggenheim Bilbao ist es nicht, und das sollte es auch nicht werden, wie Tate-Direktor Nick Serota betont: "Uns war von Anfang an klar, dass wir hier kein ikonisches Gebäude errichten wollen, sondern ein Museum des 21. Jahrhunderts, das sich mit der großartigen Bausubstanz des Kraftwerks auseinandersetzt." Britisch-enthusiastisches Kompliment an die Architekten: "Und es ist einer der besten Bauten von Herzog und de Meuron geworden." Spaziert man nach dem Besuch am Themseufer nach Westen, vorbei an teuren Coffeeshops und Designerläden, stößt man bald auf dicke Betonbrüstungen, die einem plötzlich seltsam bekannt vorkommen. Das South Bank Centre, ein wuchtiges Sichtbetonensemble aus den 1960er-Jahren, ist mit seinen Räumen für Kunst, Musik und Theater eine ebensolche Trutzburg der Kunst und ihrer freien Verfügbarkeit für alle. Wer weiß, vielleicht hat Herzog und de Meurons Kehrtwende von Spiegelglas zu Ziegel und Beton hier auf einem inspirativen Spaziergang ihren Anfang genommen.

 

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 18./19.06.2016