Über den eigenen Schatten springen: Interview mit Diébédo Francis Kéré

Er kommt aus Burkina Faso und hat sein Büro in Berlin. Der Architekt Diébédo Francis Kéré bekam den renommierten Schelling-Preis verliehen. Ein Gespräch über das Vor-Ort-Sein und die Ästhetik des Lehmbaus.

 

Der seit 1992 alle zwei Jahre vergebene Schelling-Preis für Architektur ist so etwas wie ein Ruhmindikator der Branche. Nicht wenige unter den Preisträgern der Karlsruher Stiftung wurden wenig später mit dem Pritzker-Preis gekrönt. Dabei folgt die Kandidatenauswahl nicht der reinen Prominenz, sondern einem Thema, in diesem Jahr "Indigenous ingenuity - direkt vor Ort".

 

Während der Lebenswerk-Preis für Architekturtheorie schon vorher feststand – er ging an den Finnen Juhani Pallasmaa –, wurden die drei Kandidaten für den Architekturpreis am 12. November live gekürt. Dabei wollten Anna Heringer aus Deutschland, Carla Juaçaba aus Brasilien und Diébédo Francis Kéré aus Berlin und Burkina Faso am liebsten gar nicht gegeneinander antreten. Man schätze sich gegenseitig zu sehr, versicherten sie.

In der Tat sind alle drei im selben Feld unterwegs – sie bauen abseits der ausgetretenen Pfade, vor Ort und kooperativ: Heringer fusioniert bei ihren Bauten in Bangladesch lokales Wissen mit Expertise von außen, Juaçabas Expo-Pavillon in Rio de Janeiro ist ein programmatisch offenes Gerüst, und Kéré gewann mit dem Schulbau in seinem Heimatdorf Gando bereits 2004 den Aga Khan Award. Als die Jury schließlich ihn kürte, kündigte er sofort an, das Preisgeld von 30.000 Euro zu teilen. Warum das Wir wichtiger ist als das Ich, erzählte er dem STANDARD in Karlsruhe.

Sie haben das Preisgeld prompt mit Ihren Mitkandidatinnen geteilt. Eine spontane oder geplante Entscheidung?

Kéré: Ich habe schon vorher gesagt, dass ich den anderen den Preis gönne, also war das die logische Konsequenz. Es ist nicht nur so dahingesagt. So konsequent versuche ich auch zu leben.

Gibt es außer der persönlichen Wertschätzung auch eine architektonische Ebene, die Sie verbindet?

Kéré: Uns verbindet das Bemühen, in Regionen Infrastrukturen zu schaffen, wo Wissen noch gebraucht wird – anders als in Europa, wo in jedem Bereich Überfluss herrscht. Man muss den Menschen schulen, man muss versuchen, dort etwas Dauerhaftes aufzubauen.

So wie die Schule in Ihrem Heimatort Gando – Ihr erstes Projekt, noch vor dem Diplom in Deutschland?

Kéré: Ja, das war ein großes Risiko, die Erwartungen waren hoch. Der Häuptling schickt seinen ältesten Sohn ins Ausland – was bringt er mit? Wären meine Lehmwände nach dem ersten Regen weggeschwemmt worden, würden noch meine Enkel von diesem Scheitern erzählt bekommen. Ich hatte großen Respekt: Nutze ich meiner Gemeinschaft oder schade ich ihr? Das Wichtigste bei meiner Arbeit war, den Mut zu haben, über meinen Schatten zu springen und der Dorfgemeinschaft zu sagen: Das schaffen wir. Diesen Mut vermisse ich im Westen oft.

Wie haben Sie es geschafft, die Bevölkerung zu überzeugen?

Kéré: Schulen gab es in meiner Heimat schon, aber die bestanden aus Mauern und einem Blechdach, sehr dunkel und stickig. Wenn Leute dort zu Geld kommen, wollen sie kein Lehmhaus, sondern eins aus Beton und Glas. Aber das funktioniert in diesem Klima nicht. Wir versuchen etwas aus diesem Arme-Leute-Material zu machen, indem wir eine konstruierbare Ästhetik einführen. Das heißt, wir mischen den Lehm mit Zement, wir bauen auskragende Dächer, die in der Hitze für Abluft sorgen und verhindern, dass der Regen den Lehm abwäscht. Bei einem anderen Projekt haben wir traditionelle Tontöpfe in Scheiben geschnitten und als Material verwendet.

Müssen Sie dazu als Architekt vor Ort sein, oder können das die Bewohner alleine?

Kéré: Wir haben ein festes Kernteam aus Einheimischen, die das Wissen weitertragen. In Gesellschaften, in denen wenig schriftlich festgehalten wird, ist das kollektive Gedächtnis wichtig. Wenn jemand tot umfällt, können sechs andere die Idee rekonstruieren. Man muss das Wissen so breit wie möglich verteilen. Deswegen sind die Pläne einer meiner Schulen auch Open Source, jeder kann sie downloaden.

Also das Gegenteil einer Architektur, die von einem einzelnen, genialen Architekten abhängt.

Kéré: Das ist in Europa gang und gäbe, aber bei uns funktioniert das nicht. Wenn man aus einer Gemeinschaft heraus Wissen erlangt, will man das mit der Gemeinschaft teilen.

Hierzulande wurden Sie bekannt als Architekt von Christoph Schlingensiefs Opernhaus-Vision in Burkina Faso. Wo steht das Projekt vier Jahre nach Schlingensiefs Tod?

Kéré: Das Operndorf ist ein permanentes Projekt. Eine Schule mit 200 Schülern gibt es schon, einen Kindergarten, ein Atelierhaus. Der nächste Schritt ist das Opernhaus selbst. Natürlich ist es nicht leicht, an das Erbe von Schlingensief anzuknüpfen. Seine Energie war einzigartig.

Sie haben ein Büro in Berlin und bauen in Mali und Mosambik genauso wie in Mannheim und Münster. Was können wir von Afrika lernen?

Kéré: Zum Beispiel das Bewusstsein, dass unsere Ressourcen begrenzt sind. Das heißt nicht, dass jeder anfangen soll, Lehmhäuser zu bauen. Aber die Häuser können intelligenter werden. Man kann den Grad des Hightech in den Gebäuden reduzieren und mehr auf nachwachsende Ressourcen setzen.

Lässt sich die Offenheit Ihrer Architektur auch auf unsere Breiten übertragen?

Kéré: Hier im Westen sind wir stark von Verboten gesteuert, von Angst. Ich habe das Gefühl, dass den Bürgern vorgegeben wird: An diesem Ort darfst du dies und dort jenes nicht machen. Wir sollten unsere Städte so gestalten, dass die Menschen öffentliche Plätze für sich in Anspruch nehmen können. Nur zu feiern, wenn jemand das Kommando dazu gibt, ist zu wenig. Und die Politiker haben Angst vor der nächsten Wahl, sodass wir die großen Schritte nicht machen können.

Das heißt, wir sollten – wie Sie – öfter über den eigenen Schatten springen?

Kéré: Es würde helfen, sich mehr auf Diskussionen einzulassen. Wenn wir uns wegen jeder kleinen Entscheidung vor Gericht finden, wenn niemand Fehler eingestehen will, dann kann das so nicht weitergehen. Wir müssen uns verantwortlich für eine Sache fühlen – nicht nur zuschauen und bei jeder Kleinigkeit anrufen und sich beschweren. Wir müssen vom Ich zum Wir finden.

Erschienen in: 
Der Standard, 29./30.11.2014