Überlebt die Stadt? - Interview mit Edward Glaeser

Harvard-Ökonom Edward Glaeser erklärt, was wir aus Detroits Bankrott lernen und warum Städte trotzdem das Beste sind, was wir haben

Als die einstige Motor-City Detroit am 18. Juli Konkurs anmeldete, war dies nur ein weiterer Schritt auf dem langen Weg nach unten. 18,5 Milliarden Dollar Schulden, 78.000 leerstehende Gebäude, ein sinnloser People-Mover, der über leere Straßen schwebt. Hatte die Stadt zu Boomzeiten 1950 noch 1,8 Millionen Einwohner, sind es heute nur 700.000. Für die Kosten für Infrastruktur und Alterspensionen kann Detroit längst nicht mehr aufkommen, Polizei und Rettung funktionieren kaum noch.

Detroit ist mit Abstand die größte der 650 US-Städte, die seit 1937 Bankrott angemeldet haben. Seitdem wird überlegt, das Tafelsilber zu verscherbeln, vom Flughafen bis zu den Kunstwerken am Detroit Institute of Fine Arts. Auf der anderen Seite beginnen einzelne Bewohner, Gärten auf den verwilderten Brachflächen anzulegen, Künstlerkollektive kaufen leere Häuser für eine Handvoll Dollar. Kann sich die Stadt also wieder aufraffen? Und wenn ja, wie?

In seinem Buch "Triumph of the City" hat der Harvard-Wirtschaftsprofessor und Stadtökonom Edward Glaeser die Gründe für den Niedergang des einst von Erfindergeist erfüllten Detroit beschrieben - und nennt die "wissenszerstörende Idee" der Fließbandproduktion Henry Fords, Rassenunruhen und die Vernachlässigung von Bildung. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt Glaeser, warum manche Städte sich neu erfinden und andere nicht.

STANDARD: Hat Sie der Bankrott Detroits überrascht?

Glaeser: Ich glaube nicht, dass irgendjemand davon überrascht war. Die Tragödie hat sich seit vier Jahrzehnten vor den Augen der Öffentlichkeit entfaltet.

Wie hätte der Konkurs abgewendet werden können?

Der Niedergang Detroits war unvermeidbar. Die Stadt war ein Shootingstar, dem es an Substanz mangelte, weil man nur auf eine Großindustrie setzte. Ein Bankrott resultiert aber vor allem aus schlechtem Finanzmanagement. Einer wachsenden Stadt kann das genauso passieren. Kalifornien etwa hat enorme Finanzprobleme, obwohl es boomt. Aber Städte, die schon angeschlagen sind, können dadurch den Karren richtig in den Dreck fahren. Wenn eine Industrie schwächelt, würde jeder raten, besonnen zu investieren und zu sparen. Das hat Detroit aber nicht getan.

Ist die Pleite ein weiteres Stigma für die Stadt oder ein Signal für einen Neubeginn?

Sie ist sicher kein Stigma. Das wäre der Fall bei Personen oder Unternehmen, die man eigentlich für wirtschaftlich gesund gehalten hat. Auf Detroit trifft das aber nicht zu. Es ist aber ein notwendiger Schritt, um die Stadt auf stabilere Füße zu stellen, und ein Anlass, sich endlich über eine Verbesserung des Schulsystems Gedanken zu machen.

In Ihrem Buch kritisieren Sie, dass Detroit in der Vergangenheit zu viel in Infrastruktur investiert hat anstatt in seine Bewohner. Warum ist Bildung für Städte wichtiger als Straßen und Häuser?

Detroit hat ein Übermaß an Straßen und Infrastruktur, es braucht sicher nicht mehr. In Entwicklungsländern ist das sicher anders, dort muss man in Wasserversorgung und Verkehrsmittel investieren. Aber Bildung ist für den Erfolg des Einzelnen und damit der Nation unabdingbar - und ist der beste Indikator für gesunde Städte. Boston zum Beispiel war um 1970 eine am Boden liegende Industriestadt und hat sich seitdem als Hochschulmetropole neu erfunden. In Detroit dagegen haben nur elf Prozent aller Bürger einen College-Abschluss.

Weltweit klagen viele Städte über öffentliche Schulden, während der private Reichtum ansteigt. Wie können Städte damit umgehen?

Ich glaube nicht, dass das Einkommen das Problem ist. Es geht darum, vernünftig zu handeln. Viele Städte tun das: New York hat zwar ein verrücktes Steuersystem, aber in seinen politischen Debatten finden sich weniger Tea-Party-Argumente als auf nationaler Ebene.

In den USA werden von konservativer Seite Städte oft als "unamerikanisch" gebrandmarkt. Woher kommt diese Tendenz?

Der Anti-Urbanismus fing schon bei den Gründervätern an. Damals war es allerdings der liberale Thomas Jefferson, der einen ländlichen Bauernstaat wollte. Das Problem liegt darin, dass die Verfassung den Eigenheimbesitz und das Land gegenüber der Stadt favorisiert. Im Laufe der Zeit wurden diese Gebiete zum Kernland der Rechten. Eine weitere Ursache ist, dass die Leute leichter begreifen, wie Landwirtschaft funktioniert, als was eine Stadtverwaltung tut. Drittens gibt es immer noch den Mythos des einsamen Farmers, deswegen halten sich Leute, die am Stadtrand wohnen, nicht für Stadtbewohner, weil sie eben eine Palme sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen.

In attraktiven Städten wie New York, Paris, London und Wien ist das Wohnen inzwischen enorm teuer geworden. Können diese Städte leistbar für alle bleiben?

Die Regeln von Angebot und Nachfrage sind leider schwer zu ignorieren. New York hat in den 1920er- und 1960er-Jahren viele Wohnungen gebaut, aber heute steigt die Nachfrage, und das Angebot bleibt konstant. Die natürliche Lösung aus wirtschaftlicher Sicht wäre also, mehr und höher zu bauen. Dazu muss man die Baugesetze lockern. In Gegenden wie dem Viertel in New York, in dem ich aufwuchs, würde das den Charakter auch nicht sehr ändern. Bei Städten wie Paris ist es natürlich schwieriger. Einen Wolkenkratzer neben Notre Dame fände ich genauso entsetzlich wie jeder andere. Dort muss man also in stadtnahe Gebiete ausweichen.

In Wien sind rund 25 Prozent der Wohnungen in städtischem Besitz. Ist das ein beispielhaftes Rezept für leistbares Wohnen, oder kann der freie Markt das ebenso leisten?

Das kommt darauf an, wie kompetent die Verwaltung ist. In den USA sind viele öffentliche Wohnbauten sehr schlecht, in Singapur wiederum ausgezeichnet. Man sollte es also keineswegs immer dem freien Markt überlassen, in historisch wertvollen Städten wie Wien eher nicht.

Detroit hat rund die Hälfte seiner Bewohner verloren, Liverpool und Leipzig ging es ähnlich. Wie können Städte schrumpfen, ohne zu sterben?

Es kommt darauf an, ob nur die Bewohner wegziehen oder ob auch ihre Wohnungen leerstehen und ob öffentliche Institutionen betroffen sind. Dann wird es problematisch. Wenn die Häuser leerstehen, wie in Detroit, brauche ich eine Strategie für diese Leere. Das kann bis zur landwirtschaftlichen Nutzung gehen, wie es zurzeit ausprobiert wird.

Können Städte sich immer neu erfinden, oder gibt es auch die Option, sie ganz aufzugeben, wenn sie keine Zukunft haben?

Das ist in der Menschheitsgeschichte mehr als einmal passiert! Aber Detroit ist nicht ohne Grund dort, wo es ist: an einer wichtigen Wasserstraße, an der kanadischen Grenze. Dort wird es immer eine Siedlung geben.

Werden Städte also trotz allem triumphieren?

Da bin ich sehr zuversichtlich! Detroit ist ein Beispiel, wie man es auf monströse Weise falsch macht, aber das heißt nicht, dass Städte an sich fehlerhaft sind. Denn gerade dort können Menschen klug, unternehmerisch und kreativ sein. Die Finanzkrise hat noch mehr erkennen lassen, wie wichtig das ist. Städte sind die Basis des zwischenmenschlichen Handelns, und das werden sie immer sein.

 

 

Edward Glaeser (46), aufgewachsen in New York als Sohn eines deutschen Architekten, ist seit 1992 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University. Er schreibt für den "Boston Globe" und die "New York Times" und veröffentlichte 2011 sein Buch "Triumph of the City".

Erschienen in: 
Der Standard, 3./4.8.2013