Wieder leben lernen

Das "Neunerhaus " in Wien bietet Obdachlosen ein Zuhause auf dem Weg in die Normalität. Mit Architektur, die mehr ist als nur Norm

Ich fühle mich hier sehr gut aufgehoben", sagt Ernst S. und blickt aus seinem Fenster im dritten Stock in den Hof. Gut, er sei zwar ein Naturmensch, deswegen habe er kurz gezögert vor dem Einzug im April. Viel Grün gibt es nicht auf der Eckparzelle im dritten Bezirk. Aber der Prater ist nur wenige hundert Meter entfernt. Zum Angeln fährt er zum Wienerbergteich.

Ein Tisch, zwei Stühle, Bett, Regal, Küchenzeile, 25 Quadratmeter – eine der 73 Wohnungen im "Neunerhaus", das Ende Juni eröffnet wurde. Nicht lange ist es her, da wohnte der heute 58-Jährige ganz anders. Vier Jahre lang auf einem Dachboden, im eisigen Winter unter mehreren Decken, im Sommer war es brütend heiß. Seine Papiere wurden gestohlen, von einem Überfall trägt er noch eine Narbe. Heute hat er sein eigenes Reich hinter seiner eigenen Tür – im wohltemperierten Passivhaus. "Es ist schön ruhig hier."

Zwei Stockwerke über ihm sitzt Peter E. auf seinem neuen Sofa, er bewohnt mit Freundin und Hund eine der Paarwohnungen im Neunerhaus. Auch er genießt die Ruhe. Eine Vergangenheit aus Alkohol, Gewalt, Haft, Obdachlosigkeit liegt hinter ihm. "Ich brauche eine Tür, die ich abschließen kann, einen Raum für mich alleine. Die Tür ist fast noch wichtiger als das Dach über dem Kopf." Für viele ehemalige Obdachlose gilt: Das Wohnen muss man erst wieder lernen. Manche schlafen die ersten Wochen auf dem Balkon, erzählt Peter E.

Der Verein Neunerhaus betreibt in Wien Wohnheime für akute Fälle, für Übergangswohnen und das Programm "Housing First", in dem die ehemals Obdachlosen selbstständig in der Stadt verteilt wohnen. Das Neunerhaus in der Hagenmüllergasse liegt programmatisch dazwischen. Hier wohnt man in der Regel für zwei Jahre, idealerweise geht es danach in stabileren Verhältnissen weiter. Am selben Ort betrieb man schon früher ein Wohnheim, das sich bald als nicht mehr sanierbar erwies. Gemeinsam mit dem Bauträger WBV-GPA und gefördert vom Fonds Soziales Wien machte man sich an die Neubauplanung, vier Architekturbüros wurden eingeladen. Am 22. Juni wurde eröffnet.

"Partizipation war uns schon immer sehr wichtig", sagt Neunerhaus-Geschäftsführer Markus Reiter im Standard-Gespräch. "Deswegen haben wir bei der Planung das Wissen und die Wünsche der Bewohner und Mitarbeiter mit einbezogen. Uns ging es darum, eine Geschichte zu finden, die erzählt, wie in diesem Haus das Leben und wie die Kommunikation stattfindet." Die überzeugendste Lösung kam vom Wiener Büro Pool. Sie halsten sich selbst eine gehörige Portion Tüftelei auf: Nicht nur, dass sie die maßgeschneiderten Möbel selbst entwarfen, es gleicht auch keine einzige Wohnung der anderen. "Pool hat genau unsere Sprache getroffen, fast, als ob sie unsere Gedanken lesen könnten", freut sich Markus Reiter.

Fixvokabular dieser gemeinsamen Sprache: Hier geht es um die Rückkehr zur Normalität, nicht um Auffanglager-Tristesse. Mehr als das absolute Minimum darf da durchaus drin sein. Passivhausstandard, je eine Waschküche pro Geschoß, Küchenzeilen mit Backrohr. "Die Entscheidung, vollwertige Küchen einzubauen, ist ein wichtiger Faktor für das selbstverantwortliche Wohnen", betont Markus Reiter. Architekt Christoph Lammerhuber von Pool ergänzt: "Die Bewohner hier haben genau dieselben Bedürfnisse wie andere Nutzer. Die Tatsache, dass hier an der Ausstattung nicht gespart wird, ist auch eine Form von Gerechtigkeit."

Auch beim wesentlichen architektonischen Element wurde auf Billiglook verzichtet: Das Stiegenhaus, das sich mit zahlreichen Seitengängen, Winkeln und Nischen durchs Haus schlängelt, ist mehr eine helle, freundliche innere Straße als ein neonbeleuchteter Funktionsschacht. Mit seinem Farbschema aus Blütenrosa, Siebziger-Jahre-Tannengrün, Apfelgrün, Blaubeerblau und Vanillebeige, das sich über Lufträume geschoßübergreifend verzahnt, wirkt es fast wie ein auseinandergefaltetes Eisdielensortiment.

Stiegenhaus und Wohnungen bilden so ein ineinander verschachteltes Raumpuzzle voller Ecken und Winkel. So etwas macht auch ein Architekt nicht aus reinem Spaßbedürfnis. "Die Wohnungen wirken dadurch größer", sagt Christoph Lammerhuber, "und sie sind auch besser benutzbar." Hier ein Platz für die Garderobe, da ein Eck für den Schrank. Auch im Stiegenhaus fungieren die vielen Nischen und Gemeinschaftsbereiche als wichtige, weil geschützte Privatsphäre.

Wer will, kann durch die Stockwerke flanieren und mit den Nachbarn beim Wuzler vor minzgrünem Wandhintergrund verweilen, ohne permanent unter Beobachtung zu stehen. Begegnungen sind möglich, aber nicht erzwungen. Eine Wohltat für die Bewohner, die anderes gewohnt sind: "Im Übergangswohnheim hat's jeder sofort mitbekommen, wenn man aus der Tür gegangen ist", erinnert sich Peter E. Sein Urteil zum Stiegenhaus: "Leicht abstrakt, aber voll genial!"

Ein zwangloses Angebot, so könnte man das Neunerhaus umschreiben. Psychologische und ärztliche Betreuung, Sozialarbeit, Essensausgabe und Flohmarkt sind im Haus untergebracht, doch klingelt kein strenger Aufseher täglich an der Wohnungstür, um Teilnahme einzumahnen. Auch ein Alkoholverbot gibt es nicht. Das Café mit Hof im Untergeschoß wird eigenständig von den Bewohnern betrieben, selbst hier findet sich im kleinsten Detail noch die psychologisch relevante Nische: Die Architekten gaben der Bar kammartige Ausbuchtungen, an denen man sich gegenübersitzen kann – wenn man es will.

"Wichtig ist es, das Thema Wohnungslosigkeit in die Stadtviertel zu integrieren. Es gibt Kurzzeit-Apartments für Manager, warum also nicht auch für Obdachlose?", sagt Geschäftsführer Markus Reiter. Schließlich ist Wohnungslosigkeit in Zeiten der steigenden Lebenshaltungskosten und "working poor" kein Randthema mehr – stigmatisiert ist es dennoch. "Es gibt einen hohen Anteil an prekär Wohnungslosen", erklärt Markus Reiter. "Menschen, die bei Freunden oder Verwandten auf der Couch wohnen. Das ist versteckte Obdachlosigkeit. Es geht uns darum, Scham und Stigmatisierung zu vermeiden. Die hohe Qualität des Wohnens ist auch ein Signal an die Bewohner, eine Einladung, ihr Leben zum Besseren zu verändern."

Ein buntes Stiegenhaus-Wohnungs-Labyrinth, ein geräumiges Café im Haus: Es ist ein fröhliches Paradox, dass ein Haus, das in erster Linie ein "normales Wohnhaus" sein will, etwas ganz Eigenes geworden ist, eine Typologie für sich. Da passt es gut, dass die Architekten auch bei der Fassade mehr als das Minimum herausholten: Die weiß verputzten, nach außen aufgeweiteten Fensterleibungen vermeiden die bei Wärmedämmfassaden übliche Schießschartenoptik und holen mehr Licht ins Innere.

Peter E. sitzt auf dem Sofa hinter seinem hellen Fenster, den Hund zu seinen Füßen, und lächelt. "Es ist ein Versuch eines normalen Lebens", sagt er. "Ein gewisser Standard des Wohnens, den man nicht verlieren mag. Und man weiß, dass man etwas dafür tun muss. Es ist zum ersten Mal ein Gefühl von Wohnen." – "Nein", korrigiert er sich: "Eigentlich ein Gefühl von Leben."

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 5./6.7.2015