Der Kampf um die Straße: Citizen Jane

Der Dokumentarfilm “Citizen Jane“ erzählt die Geschichte der Autorin und Aktivistin Jane Jacobs, die im New York der 1960er Jahre den Kampf gegen die Technokraten aufnahm – und gewann. Ihr damals revolutionärer Blick auf die Stadt als lebendiger Organismus prägt den Urbanismus bis heute.

Es gibt Geschichten, die wie für Filme gemacht sind. Geschichten, in denen die Rollen von Held und Bösewicht so perfekt verteilt sind, das sie fast ausgedacht scheinen. Ein solches Märchen von David gegen Goliath ereignete sich vor einem halben Jahrhundert in New York. Die Protagonisten: Eine kluge und selbstbewusste Frau Mitte 40, wache Augen hinter der Hornbrille. Ein Technokrat Mitte 70, großgewachsen, herrisch und mit enormer Machtfülle ausgestattet, obwohl er nie gewählt wurde. Ihre Namen: Jane Jacobs und Robert Moses. Ihr Streit darüber, in welche Richtung sich New York entwickeln sollte, wurde nicht nur von ihren denkbar konträren Charaktern befeuert, sondern war auch eine Zeitenwende, was die Geschichte des Urbanismus betrifft.

Dieses Duell der Ungleichen ist zwar immer noch kein Spielfilm geworden, aber ein Dokumentarfilm mit Spielfilmqualitäten. „Citizen Jane“ schließt die New Yorker Story von Jacobs und Moses mit der globalen Stadtentwicklung von heute kurz, der Filmemacher Matt Tyrnauer ist dabei ganz parteiisch auf der Seite der streitbaren Jane und ihrer Idee von Stadt.

Ballett der Straße

Wer war Jane Jacobs? 1935 nach New York gezogen, arbeitete sie als Journalistin und machte sich bald einen Namen aufgrund ihrer genauen Recherchen und ungewöhnlichen Themen, etwa ein Artikel, der sich nur mit Kanaldeckeln beschäftigte. Schon früh beschäftigte sie sich mit der Stadt, in der sie lebte, und sie analysierte diese nicht von oben, sondern auf Augenhöhe. Sie beschrieb das tägliche Geschehen auf den Straßen von Greenwich Village als „Ballett der Straße“, in dem jeder Bürger ein Teilnehmer war. Die Stadt war für Jacobs ein Wunder der Komplexität, das sie nie ganz ergründen ließ. „Wenn man eine Stadt verstehen kann, ist die Stadt tot“, urteilte sie. Dies hinderte sie nicht daran, in ihrem Buch „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (1960) ein Manifest für diesen Blick zu verfassen, das für ungeahntes Aufsehen sorgte und bis heute als Meilenstein des Urbanismus gilt.

Ein Manifest, das keine reine Theorie war, denn Greenwich Village wäre zu dieser Zeit um ein Haar verschwunden. Dass dies nicht geschah, ist nicht zuletzt der mit reichlich Talent für öffentlichkeitswirksame Aktionen ausgestatteten Jane Jacobs zu verdanken, die zuerst erfolgreich den Protest gegen die Verlängerung der Fifth Avenue durch den beliebten Washington Square Park organisierte und später den geplanten Lower Manhattan Expressway mitten durch New York verhinderte. Schon 1958 hatte sie einen Artikel namens „Downtown is for people“ verfasst. Die Reaktion des Herausgebers: „Wer ist diese verrückte Dame?“ Protest von Laien, noch dazu von weiblichen, war damals nicht vorgesehen. Das sollte sich ändern.

Siegeszug des Autos

Der Goliath zu Jane Jacobs David war zu diesem Zeitpunkt schon fast 80 Jahre alt. Robert Moses hatte gut 50 Jahre als Stadtplaner im Dienst der Stadt New York gearbeitet, und dabei so viel Macht angesammelt, dass die Stadt bald für ihn arbeitete. Wie Le Corbusier sah der „Master Builder“ die Straße mit ihrem Durcheinander von Fußgängern, Händlern, Fahrzeugen, als unzeitgemäßes Hindernis an. Er erkannte früh die Wichtigkeit des Automobils, obwohl er selbst nie am Steuer saß. Und das Automobil brauchte Platz, brauchte Brücken, Tunnels und Highways. Die Gesetze, die er für deren Bau benötigte, schrieb sich der juristisch begabte Moses einfach selbst, seine Behörden wie die Triborough Bridge Authority häuften Millionen an Mautgebühren für Brücken und Tunnels an und waren praktisch jeder demokratischen Kontrolle enthoben.

Doch seine Wohnsiedlungen wurden bald zu Problemgebieten, seine Straßen waren neue Arterien für die Stadt und zerstörten diese gleichzeitig. Der Cross Bronx Expressway schnitt den damals lebendigen, bunt gemischten Stadtbezirk brutal entzwei und leitete seinen langen Niedergang ein. Für Moses galt das als „slum clearance“, als Beseitigung von städtischen Übeln, und daher als gute Sache. „Bei solchen großen Wohnprojekten muss man viele Leute umsiedeln. Vielen von ihnen wird das nicht gefallen. Aber die sind einfach falsch informiert,“ konstatierte er kühl.

Erneuerer und Bewahrer

Seine Reaktion auf Jane Jacobs spiegelt nicht nur die Arroganz des Planers, sondern auch den Sexismus der Mad-Men-Ära: „Nur eine Hausfrau“. Doch der Kampf gegen Jane Jacobs war der erste, den er verlor. Denn die Zeit der Master Builder war abgelaufen. Die 1960er Jahre war in den USA die Dekade der Bürgerrechte, man protestierte gegen Rassismus und gegen den Vietnamkrieg. Auch in der Stadtplanung rebellierte Bottom-up gegen Top-Down. Das Duell Jacobs gegen Moses ist die Blaupause für viele Stadtplanungsdebatten bis heute, für den ewigen Kampf zwischen Erneuerern und Bewahrern der Stadt. Dabei sind die Erneuerer oft konservativer als die Bewahrer, wie man zur Zeit bei der Stadtschloss-Debatte in Berlin beobachten kann. Bewahrer wie Jane Jacobs und ihre Nachfolger, etwa der dänische Stadtplaner Jan Gehl, sehen Städte als lebendige Organismen und sind daher weniger konservativ als Technokraten wie Robert Moses, deren rigide Strukturen oft keinen Raum für Anpassungen mehr zulassen und schneller als gedacht veralten.

Jane Jacobs zog 1968 nach Kanada, wo sie, kaum in Toronto niedergelassen, sofort den nächsten Expressway zunichte machte. Sie publizierte weiter und blieb der Straße und der Stadt bis zu ihrem Tod 2006 treu. Robert Moses wurde nach dem von ihm verantworteten finanziellen Desaster der Weltausstellung 1964 nach und nach seinen Ämtern enthoben. 1974 erschien Robert Caros Monumentalbiografie „The Power Broker“, die erste fundamentale Kritik am bis dahin verehrten Masterplaner. New York war zu diesem Zeitpunkt praktisch bankrott und von Zerfall und Verbrechen geplagt. Hochstraßen wie der West Side Highway zerbröselten, die autogerechte Stadt war eine Stadt der Autowracks geworden.

Heute spazieren dort, wo Robert Moses seine Expressways in der Höhe imaginiert hatte, sechs Millionen Besucher pro Jahr den High-Line-Park entlang und schauen von oben auf die Autos. Jane Jacobs’ Gehsteig-Ballett wird weiter getanzt. Haben die Janes der Welt also gewonnen? Glaubt man „Citizen Jane“, ist der Kampf noch nicht vorbei. In Chinas Megastädten trieben die Moses wieder ihr Unwesen, wird suggeriert, und die Top-Down-Diktatur ist auf globaler Ebene stärker denn je. „Die Community in Greenwich Village kämpfte damals gegen dieselben machtstrukturen wie die heutige Opposition gegen großen Banken und das eine Prozent der Superreichen“, so Regisseur Matt Tyrnauer.

Doch es gibt noch einen Epilog, den der Film vielsagend verschweigt: Der High Line Park, deren Mitinitiator Robert Hammond als Produzent des Films fungiert, hat auch die Immobilenpreise in die Höhe schnellen lassen. Das Haus in der Hudson Street, für das Familie Jacobs damals 8.000 Dollar bezahlte, wurde 2010 für 3,5 Millionen Dollar verkauft. In den Straßen von New York, Paris und London tanzen heute vor allem die Reichen und die Touristen das Gehwegballett, und das Durcheinander ist privatisiert, überwacht und steril geworden. Das ist nicht die Schuld von Jane Jacobs. Aber als Lektion aus der Fabel gilt: Ganz so einfach sind die Märchen von Gut und Böse meistens nicht.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 5./6.8.2017