Die Angst vor der Stadt

Die Geschichte eines weggeshitstormten Basketballkorbs - und was man daraus über unser Stadtverständnis lernen kann.

Wer kennt sie nicht, die versonnenen Blicke mitteleuropäischer Touristen, wenn sie in atmungsaktiven Partnerlookjäckchen kurzurlaubend durch mediterrane Städte schlendern. Die engen Gässchen, wäscheleinenüberspannt wie in einem 50er-Jahre-Film, hier das Kätzchen, dort die knopfäugig-fotogenen herumtollenden Kinder, und schau nur, dort oben schreien sich zwei Frauen aus ihren Fenster über die Gasse den neuesten Klatsch zu. Kann Urbanität noch pittoresker sein?

Mit Gigabytes voller Nahaufnahmen südlichen Straßenlebens und patinös abblätternder Fassaden auf der Speicherkarte kehrt man zurück in die Heimat - um dort wieder auf der Eigenparzelle hinter blickdichten Zwei-Meter-Thujenpalisaden über dem Ulrich-Seidl-Keller in Deckung zu gehen, und sollte die Nachbarin herüberschreien, wird per Mail mit dem Anwalt gedroht. Urbanität ja, aber bitte nicht zu Hause.

Zugegeben, wir haben hier herzhaft in den Klischeetopf gegriffen, und doch bleibt festzuhalten: Urbanität bedeutet vor allem: Konfrontation mit dem Fremden, Unbekannten und Überraschenden. In der Stadt endet die Privatheit nicht am Jägerzaun, sondern in der Regel an der Wohnungstür. Was davor ist, ist Verhandlungssache.

Rückzugsgefechte des Jägerzauns

Ob man eine solche Urbanität aus dem Nichts erschaffen kann, ist eine Frage, die Architekten und Stadtplaner seit Jahrhunderten umtreibt. Die heutigen Lösungen dieses Grübelns kann man zurzeit sehr schön in Wien beobachten. Die Stadt wächst so stark wie nie, man setzt, wo immer es geht, auf Dichte, wie sie in mediterranen Stadtkernen und hiesigen Gründerzeitvierteln geschätzt wird.

In Aspern und im Sonnwendviertel kann man sich bei einem Frühlingsspaziergang anschauen, wie das funktioniert: am Blockrand viel Masse, in den Innenhöfen Raum, der alles können muss. Man sieht auch: maschendrahtumzäunte Miniterrassen und Minigärten im siebengeschoßigen Schatten. Seltsame Schwundstufen von Stadtrandidyllen, Rückzugsgefechte des Jägerzauns. Schon klar: Der Städtebau folgt hier der Logik des Wohnbaus, der wiederum der Logik verwertbarer Wohnquadratmeter folgt.

Der Erfolg von Urbanität entscheidet sich nicht zuletzt in den Erdgeschoßzonen. In Aspern scheint das etwas besser zu gelingen als im Sonnwendviertel, wo straßenseits noch Leblosigkeit herrscht, während das quirlig-urbane Leben nach innen gestülpt wurde, wo sich nun bewohnte Erdgeschoßterrassen mit eingehegtem Sicherheitsabstand der Blicke aller Mitbewohner und Passanten erwehren müssen. Man will alles richtig machen, und tritt sich dabei vor lauter konfliktvermeidendem Einteilungs- und Zuordnungsrausch selbst auf die Füße.

Auch von fachlicher Seite wird schon Kritik an den überprogrammierten Blockinnenhöfen laut. "Die Freiraumplaner sind heute mit großem individuellem Gestaltungswillen bei jedem noch so kleinen Grundstück dabei", klagt AzW-Direktor Dietmar Steiner. "Bei größeren Entwicklungsgebieten habe ich dann in jedem Außenraum einen anderen Planer, das zerstückelt mir alles. Es ist typisch ostösterreichisch-katholisch, dass man zu einem Überschwang an Gestaltung tendiert und nicht auch mal eine Wiese eine Wiese sein lassen kann."

Der Basketballkorb und der Shitstorm

Dort, wo man Experimente in die andere Richtung wagt, gerät man leicht in Konflikte mit dem Gewohnten. Ein solcher Streitfall ist in Aspern zu besichtigen. Es ist die Geschichte vom Basketballkorb und dem Shitstorm. Mit ihrem Entwurf "Slim City" setzten Anna Popelka und Georg Poduschka von PPAG Architects provokant einen widerborstigen Stachel ins konsensuelle Blockrand-Aspern. Keine Wohnungen, die um einen geschlossenen Innenhof angeordnet sind, sondern schmale, hohe Türme, nahe beieinanderstehend, mit Loggien, die in die genau austarierte Richtung des weitestmöglichen Blicks schauen.

All dies steht unvermittelt auf einem Stadtboden aus schwarzem Asphalt. Bäume gibt es, aber keine Zäune, keine Thujenhecken. Was im Außenraum passiert und wem er gehört, wird lediglich durch weiße Markierungen im Boden angedeutet.

Wippgeflügel im Rindenmulch

"Der Raum zwischen den Häusern soll hier verhandelt werden zwischen den Benutzern", sagt Architektin Anna Popelka. "Wir finden, man muss nicht alles vorher regeln, sondern erst einmal abwarten, ob überhaupt Konflikte entstehen." Die im unbegrünt-spätwinterlichen Anfangsstadium noch etwas harsche Optik aus Putzfassaden, Sichtbeton und Asphalt mag zwar nicht direkt an toskanische Gassenromantik denken lassen, und doch ist die Slim City der steinern-labyrinthischen Dichte von Siena und San Gimignano verwandter als die Blockinnenhöfe mancher ihrer Nachbarn.

Auch beim Bauträger, der EGW Heimstätte, war und ist man vom Experiment überzeugt: "Der Außenraum hier ist keine Asphaltwüste, sondern bietet viele Möglichkeiten", sagt EGW-Projektleiter Herbert Mühlegger. "Persönlich finde ich Blockinnenhöfe, in denen alles abgezäunt ist, eher seltsam." Auch die - mehrheitlich jungen, unmotorisierten - Bewohner der 178 Slim-City-Wohnungen fühlten sich mehrheitlich wohl. Und doch sind Opfer zu beklagen.

Denn einige flanierende Besucher waren alles andere als angetan von der Einladung zur urbanen Konfrontation: Als das Foto eines ungewöhnlich nahe vor einem Fenster positionierten Basketballkorbs in einem Boulevardmedium auftauchte, erhob sich der Wutbürger-Shitstorm. Niemals wolle man dort wohnen, hieß es da, als wäre man gezwungen, das zu tun, als wären die Bürger, die tatsächlich dort wohnen, unter Protest dort eingesperrt worden.

Ein Experiment ist nicht für jeden geeignet, das muss es auch nicht sein. Doch es half alles nichts, die üblichen Rädchen der Empörungsgesellschaft griffen ineinander, der Basketballkorb wurde vom Shitstorm umgeweht und entfernt, noch bevor der erste Slam Dunk ihn lautstark einweihen konnte.

Ängste vor Konfrontationen

"Spielende Kinder werden leider immer als Problem gesehen", seufzt Herbert Mühlegger. Auch die schutzlosen Erdgeschoßwohnungen (in der Slim City ausnahmslos zweigeschoßig) sorgten für Unruhe. "Wir haben diese Art des Freiraums schon in anderen Projekten ausprobiert, etwa beim ,Herzberg' an der Erzherzog-Karl-Straße in Wien-Donaustadt von den Architekturbüros awg (alleswirdgut) und feld72. Die Bewohner kommen in der Regel damit ganz gut zurecht."

Nicht eingezäunte Freiräume seien immer mit der Angst verbunden, Fremde könnten plötzlich auf der Terrasse auftauchen und den Bewohnern ins Wohnzimmer linsen. Das passiere praktisch nie, so Mühlegger. Sicher, nicht jeder ist so offen wie die Niederländer, die ihre Wohnzimmer ohne Vorhänge der Öffentlichkeit präsentieren, um ihren calvinistisch-braven Lebenswandel nachzuweisen. Aber die durchaus menschlichen Ängste vor Konfrontation lassen sich architektonisch lösen, ganz ohne Maschendraht und Bretterverhau.

Darf nun in Aspern gar nicht mehr gespielt werden? Nein, auch ohne Basketball bleibt noch Raum. Der Asphalt formt Mulden, in denen bei Regenfällen für eine Weile Lacken zum Hineinhüpfen entstehen. Für manche Eltern ein Horror, für Kinder eine Hetz, vor allem in Zeiten, in denen die Normen und Bauordnungen jedem Wohnbau seinen quadratmetergenau zonierten Pflichtspielplatz bescheren, oft nicht mehr als ein einsames, dafür buntes Wippgeflügel im Rindenmulch, diese monofunktionale Parodie auf kindliches Spiel. Dabei bietet doch die Stadt - zumal eine teils autofreie wie Aspern - genug Raum, um sie als Spielplatz zu benutzen, ohne in ein Reservat gezwängt zu werden.

Und der Basketballkorb? "Den haben wir nicht weggeworfen, der hat schließlich Geld gekostet", lacht Herbert Mühlegger. Er werde bei einer der nächsten Wohnanlagen zum Einsatz kommen. In Aspern wird ihm in Kürze, so die Architekten, eine Gedenktafel geweiht werden. Als Mahnmal, dass es für eine Stadt ohne Angst vor der Stadt nur etwas mehr Mut braucht - und vielleicht ein Stück mediterranes Temperament.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 28./29.3.2015