"Die Wiener Moderne hatte immer etwas Weiches" - Interview mit Joseph Leo Koerner

Der Harvard-Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner über Wien als Stadt der Träume und des Unheimlichen, über Schweinsköpfe und seine österreichischen Wurzeln

Sein Deutsch ist maßgeschneidert präzise wie der Anzug. Der US-Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner sitzt in der Wiener Secession, wo er einen Vortrag über Wiener Interieurs hielt. Koerners Vater, der Maler Henry Koerner, war 1938 aus Wien geflüchtet, die Großeltern kamen im Holocaust ums Leben. Nun erforscht Koerner jun. die Innenräume seiner Vergangenheit.

 

Sie haben eine TV-Sendung über „Vienna - City of Dreams" über die Zeit zwischen 1890 und 1938 produziert. Welche Träume haben das Wien dieser Zeit geprägt?

Joseph Leo Koerner: Träume sind ein uralter Wiener Topos. Sie spielen ein wichtige Rolle, wenn man verstehen will, wie die Stadt damals erlebt wurde. Ich denke dabei an die sozialen Utopien von Herzl und Lueger, an die Traumsprachen von Wittgenstein, und natürlich an Freuds Traumanalysen. Und dann gab es 1914, 1919 und vor allem 1938 Momente, in denen die Stadt plötzlich aufwachte und eine Realität vorfand, von der sie immer geahnt hatte, dass sie noch furchtbarer sein würde als ihre Träume.

Sie nennen diese Zeit des Umbruchs in den Worten des Schriftstellers Hermann Broch ein „Wertevakuum“. Was bedeutet das?

Koerner: Der Zusammenbruch traditioneller Werte war in Wien dramatischer als anderswo. Hier gab es ein jahrhundertealtes feudales und religiöses Wertesystem mit einem apostolischen Kaiser an der Spitze. Gleichzeitig waren die Intellektuellen dabei, ein neues, modernes Wien zu erfinden. Sie erlebten, dass alle traditionellen Wegweiser verschwanden, und sich ein Vakuum auftat, in das wiederum neue Werte hineinströmten.

In Ihrem  Forschungsprojekt geht es darum, wie Wiener Innenräume versuchten, dieses Vakuum füllten. Warum war Wien so fortschrittlich, was Interieurs betrifft?

Koerner: Wien hatte damals ganz einfach großartige Architekten! Es war ein Magnet mit einem riesigen Hinterland, aus dem ehrgeizige Leute wie Adolf Loos ins Zentrum strömten. Mit Otto Wagner und Adolf Loos gab es führende Architekten, die auch in ihren Theorien sehr überzeugend waren. Wenn man bei Loos die Polemik und die Übertreibungen abzieht, hat er auch heute noch in allem absolut recht: wie man einen Innenraum einrichtet, welche Kunst man darin aufhängt, was Kleider bedeuten, wie wichtig gute Schuhe sind.

Liegt es daran, dass sich die Moderne hier immer ein Stück Behaglichkeit bewahrte, die man woanders über Bord geworfen hatte?

Koerner: Vielleicht gab es hier einen stärkeres Bewusstsein dafür, was man zurückgelassen hat auf dem Weg in die Moderne – die Wurzeln, die verlorenen Spuren der Vergangenheit. Ich glaube, Josef Frank war einer der ersten Architekten, der den Wert des Sentimentalen erkannt hat.

Wenn man die von Frank geplante Wiener Werkbundsiedlung mit anderen Siedlungen, etwa in Stuttgart oder Dessau, vergleicht, geht es hier in der Tat viel wohnlicher zu.

Koerner: Die Wiener Moderne hatte immer etwas Weiches. Josef Frank hat gezeigt, dass die Stahlrohre des Bauhauses kalt und unangenehm anzugreifen waren, und Türgriffe aus dem Warenhaus-Katalog eigentlich viel besser und handschmeichlerischer waren. Der Funktionalismus ist ja ganz hübsch und nett, aber es gab und gibt eben viel mehr Empfindungen, Bedeutungen und Spuren, die die Menschen brauchen, vor allem jene, die eben keine Architekten oder Künstler sind.

Sie haben, in Anspielung auf Freuds Begriff des Unheimlichen, die Biografie über Ihren Vater „Unheimliche Heimat“ genannt. Inwiefern ist dieser Begriff mit einer speziell jüdischen Erfahrung verknüpft?

Koerner: Ein Großteil dessen, was die Wiener Moderne ausmachte, entstand durch Kosmopoliten, die nicht unbedingt jüdischen Glaubens, aber jüdischer Abstammung waren. Loos und Wagner waren es nicht, aber viele ihrer Kunden und Förderer. Das vorrangige Ziel war damals, zu modernen, nicht zu jüdischen Menschen zu werden. Auch Freud hatte immer darauf hingewiesen, dass die Psychoanalyse nichts speziell Jüdisches sei, sondern etwas Universelles. Das Jahr 1938 kehrte das alles um, und plötzlich  wurden Leute zu Juden, die sich oft selbst gar nicht dafür hielten. Das ist die Definition des Freud'schen Unheimlichen: Nicht ein Alptraum, der einem im Kopf herumspukt, sondern etwas, das von außen kommt, während man unschuldig seinen Alltag lebt.

In Ihrer Jugend kam Ihr Vater mit Ihnen regelmäßig nach Wien zurück. Wie hat das Ihr Verhältnis zur Stadt geprägt?

Koerner: Zwischen meinem 8. und 18.Lebensjahr war ich jedes Jahr für vier Monate in Wien. Mein Vater kam her, um zu malen. Ich glaube, er wollte dadurch herausfinden, was die Stadt für ihn bedeutete. Er wollte dieses Rätsel gar nicht lösen, nur darstellen. Tagelang taten wir nichts anderes, als mit ihm und seiner Staffelei durch die Straßen zu wandern, auf der Jagd nach Motiven. Er malte ausschließlich draußen, vom Wienerwald bis zum Gänsehäufel. Wenn er etwas Interessantes fand, blieb er stehen, malte es, und wir warteten. Im Burgenland war es zum Beispiel ein Schweinskopf, der an die Wand genagelt war, mit einem Fleischhauer daneben.

Waren Sie damals schon an Wiener Interieurs interessiert?

Koerner: Das ist rein retrospektiv. Mein Vater war nicht zu den alten Innenräumen zurückgekehrt, die sein Zuhause gewesen waren, denn die waren verloren. Auch ich hatte mich nie besonders dafür interessiert. Es gab für mich bis dahin kein Wiener Innenleben. Über die Beschäftigung mit der Geschichte entdeckte dann aber, dass genau dieser Aspekt eine Lücke in meiner eigenen Biografie war.

Seit wann machen Sie Forschungsreisen in die Wiener Innenräume?

Koerner: Bis jetzt ist es noch Theorie: Ich möchte die Räume vor allem erwandern - ein bisschen wie Thomas Bernhard in „Gehen", oder wie Adolf Loos, der 1907 den Begriff der „Wohnungswanderungen“ erfand. Es wäre spannend, so etwas heute wieder aufzugreifen. Das könnten reale Räume wie die Secession, das Wittgenstein-Haus oder Peter Altenbergs Hotelzimmer sein, oder fiktive wie die Traumräume Freuds. Auch Kafka hat, obwohl keine Wiener, großartige fiktive Wohnungen erschaffen. Es könnten auch kafkaeske Räume dabei sein, Irrenanstalten wie am Steinhof zum Beispiel.

Was wäre dann das Endprodukt dieses Wanderprojektes?

Koerner: Ich bin noch am Anfang, aber sicherlich wäre der Film ein ideales Medium dafür. Träume haben schließlich einen völlig filmischen erzählerischen Rahmen - und bei Adolf Loos sind schließlich auch alle Bewohner Schauspieler auf der Bühne der Stadt.

 

Zur Person

Joseph Leo Koerner, geboren 1958 in Pittsburgh, ist ein US-Kunsthistoriker. Derzeit ist er Professor für Kunstgeschichte und Architektur an der Harvard University. 2008 produzierte er die vielbeachtete BBC-­Sendung „Vienna: City of Dreams“ und forscht derzeit über Wiener Interieurs.

Erschienen in: 
Falter 15/2013, 10.04.2013