Gerechtigkeit für die Peripherie

Von wegen Schlafstädte: Ein Blick auf die transdanubischen Plattenbausiedlungen der 1960er-Jahre zeigt erstaunliche urbane Qualitäten

„G’hörn Sie zu der Siedlung?“, fragt die forsche ältere Dame mit dem Dalmatiner und schaut das Besuchergrüppchen kritisch-neugierig an. Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn Christoph Lammerhuber und Manfred Schenekl, an die sich die Frage vor allem richtet, wohnen zwar nicht hier in der weitläufigen Gemeindebau-Wohnanlage an der Siebenbürgerstraße in Wien-Donaustadt, aber sie kennen die Siedlung gut. Die Dame mit dem Dalmatiner kennen sie auch schon. Sie wohnt seit Anfang an hier, wie sie mit grätzelpatriotischem Stolz erklärt, und beobachtet alles, was sich tut, genau. Für den Skaterpark hat sie sich eingesetzt, auch das neue Fußballfeld für die Jugendlichen findet sie gut. Nur die neuen Sitzbänke seien nicht ordentlich verarbeitet, „da reißt man sich an den Schrauben die Kleidung auf“.

Lammerhuber, Architekt beim Wiener Büro pool architects, und der Historiker Schenekl analysieren schon seit längerem im Auftrag der MA 50 (und im Auftrag ihrer eigenen Leidenschaft) die in die Jahre gekommenen Großsiedlungen der 1960er-und 70er-Jahre, insbesondere die transdanubischen. „Inzwischen bräuchten wir schon eine Dienstwohnung, so oft sind wir hier unterwegs“, sagt Lammerhuber.

Oft übersehen, nicht selten als seelenlos geschmäht, sehen die großteils in Plattenbauweise errichteten Siedlungen wie in der Siebenbürgerstraße trotz ihrer rund 50 Jahre heute erstaunlich frisch und gut erhalten aus. Die Bäume in den weitläufigen Grünanlagen sind auf stattliche Größe angewachsen, selbst die neungeschoßigen langen Hochhausriegel sind inzwischen sanft eingebettet in fast luxuriöse Parkanlagen. Rund 7000 Menschen leben hier; eine veritable Kleinstadt. Trotzdem scheint sie nicht kalt und anonym, ein Vorwurf, der Siedlungen aus jener Zeit oft trifft. Auch die Tafeln aus bunten Bisazzafliesen, die mit Motiven wie Sonnenblume, Grashüpfer oder Musikinstrument die Eingänge zu den Stiegenhäusern markieren, wirken identitätsstiftend.

Standen die Hochhäuser zu Beginn noch in einem weiten Feld aus Dorfkernen, Gärten und Landwirtschaft, ist die Stadt mittlerweile an die Siedlungen herangewachsen. Hier ein paar mit meterhohen Thujenpalisaden blickdicht eingefasste Einfamilienhäuser, dort der kleine Wohnblock einer Genossenschaft. Manfred Schenekl beäugt ihn kritisch. „Bei diesen neuen Wohnanlagen baut jeder Bauträger seinen eigenen Zaun, und jeder kleine Garten im Erdgeschoß hat wieder einen. Die 60er-Jahre-Wohnbauten dagegen stehen in offenen Parks, die auch für die Nachbarn benutzbar sind.“

Trotz dieser Qualitäten wurden Großsiedlungen wie diese schon kurz nach ihrer Entstehung abwertend als „Schlafstädte“ tituliert, auch heute noch gelten sie, im Gegensatz zu Gründerzeitvierteln, als langweilig und leblos. Der Sohn des Architekten Peter Payer musste sich in einer legendären „Club 2“-Sendung vom Schlumpfhausapologeten Friedensreich „gerade Linie gottlos“ Hundertwasser gar als „Verbrecher“ bezeichnen lassen.

Dabei sind die Wohnriegel nach den Planungen von Architekt und Stadtplaner Roland Rainer so arrangiert, dass die Zimmer darin von morgens bis abends sonniges Tageslicht bekamen und nutzbar waren, die Grundrisse wurden vom Schubladenkastl aufwärts genauestens auf den Nutzerkomfort hin geplant. „Der Begriff ‚Schlafstadt‘ ist sowieso fehlgeleitet,“ sagt Manfred Schenekl. „Hausfrauen schlafen ja nicht! Die Siedlungen sind rund um die Uhr lebendig.“ Um das veraltete Vorurteil zu kontern, haben die beiden Forscher eine Ausstellung konzipiert, der sie das Anti-Schlafstadt-Motto „Guten Morgen, Stadt!“ gegeben haben.

Hierfür wurden eine Fotografin und zwei Fotografen eingeladen, die Siedlungen aus ihrer Sicht atmosphärisch einzufangen. Hertha Hurnaus fokussiert dabei vor allem auf die üppigen Grünflächen, hinter denen die Bauten fast wie in einem Urwald verschwinden. Stefan Oláh fasst die Bauwerke sachlich als architektonische Körper im Raum ein, während Wolfgang Thaler sich den Siedlungen von außen nähert und sie in ihrem von krassen maßstäblichen Gegensätzen geprägten Umfeld zeigt. Ergänzt werden die Fotografien durch eine Filmdokumentation von Melanie Hollaus.

„Es ist keine wissenschaftliche Ausstellung“, sagt Schenekl. „Aber der politische Aspekt des Wohnbaus soll schon herausgestellt werden.“ Auch kommen explizit keine Fotos der Wohnungen und Bewohner vor, denn, fügt Christoph Lammerhuber hinzu, es gehe um die damalige Idee des Städtebaus, um die Suche nach der Urbanität in den grünen Zwischenräumen. Parallel dazu entstanden Studien, wie die in die Jahre gekommenen Siedlungen behutsam der heutigen Zeit angepasst werden können.

Die Bewohner der ersten Jahre sind mit den Bauten alt geworden, die damals noch ohne Gedanken an Barrierefreiheit errichtet wurden. In anderen wächst schon die nächste Generation heran, für die es wiederum heute zu wenig Spielplätze gibt.

Der Anlass für die Feldforschung sei das 50-Jahr-Jubiläum des Wohnbauprogramms der Stadt Wien gewesen, heißt es beim Stadtratsbüro im Wohnbauressort. Seien die Gemeindebauten aus der Zwischenkriegszeit wie der Karl-Marx-Hof inzwischen fest im Wiener Bewusstsein verankert, gebe es bei den Nachkriegssiedlungen noch viele weiße Flecken. „Es geht sicher auch darum, den Ruf dieser Siedlungen zu verbessern. Im Wohnbau der Nachkriegszeit wohnen viel mehr Leute als in den Gemeindebauten der 1920er, und es ist vielen nicht bewusst und viele sind überrascht, welche Qualitäten diese Wohnbauten haben.“

Während heute die Gründerzeitbauten der inneren Bezirke als Nonplusultra der Urbanität gelten, waren diese in den 1950er- und 60er-Jahren noch großteils ein tristes Ensemble unsanierter Substandardwohnungen, die Neubauten am Stadtrand stellten daher in jeder Hinsicht ein Lebensqualitäts-Upgrade für die jungen Arbeiter- und Angestelltenfamilien dar, ohne die prekären, permanent von Kündigung bedrohten Wohnverhältnisse vom Anfang des 20. Jahrhunderts.

Auch Manfred Schenekl verteidigt die Urbanität der Randbezirke und sucht Gerechtigkeit für die Peripherie: „Eigentlich ist das hier das demokratischste Stadtmodell!“, sagt er. „Es muss ja nicht immer alles hierarchisch um den Stephansdom arrangiert sein. Ich bin hier draußen aufgewachsen, mir ist nie etwas abgegangen. Irgendwann bin ich sogar in den ruhigen siebenten Bezirk gezogen, weil mir an der Peripherie zu viel los war! Heute ist es genau umgekehrt.“

Inzwischen ist das urbanistische Besuchergrüppchen in der nächsten Siedlung angelangt, dem Bundesländerhof an der Bernoullistraße. Damals konzipiert als „Gruß der Stadt Wien an die Bundesländer“, wurde jeder der Wohnscheiben ein Land zugeordnet, das Bundesland Wien natürlich, als Gruß an sich selbst, inklusive.

Wenige Bewohner sind an diesem verhangenen Herbstsonntag unterwegs, doch von Verwahrlosung und Angsträumen, wie man sie etwa von der Pariser Banlieue kennt, keine Spur. Stattdessen auch hier prachtvolle Bäume. Natürlich gebe es auch hier Nachbesserungsbedarf, so Architekt Lammerhuber, etwa bei den engen Stiegenhauseingängen und den fehlenden Fahrradabstellplätzen, auch Gemeinschaftsräume könnten nicht schaden.

In der Großsiedlung Eipeldauer Straße, auf der anderen Seite der U1, ist da schon mehr los, hier ist die Stadt der Siedlung schon näher gerückt, Spaziergänger durchqueren die Grünanlage, der Spielplatz ist belebt. Die Wohnzufriedenheit in den Siedlungen sei einer Umfrage vor wenigen Jahren zufolge sehr groß, heißt es beim Magistrat. Auch die Umgebung profitiere von der Offenheit der Grünanlagen. Dabei hatte es in den 1970er-Jahren, als die Innenstädte wiederentdeckt und die Plattenbausiedlungen in Grund und Boden verdammt wurden, noch geheißen, das Leben in den Wohntürmen der Vorstädte führe zu psychischen Erkrankungen und höheren Suizidraten – auch dies hat sich nicht bestätigt.

Heute, da Wien kontinuierlich wächst, ist die Innenstadt längst ideell in der Vorstadt angekommen. Grund und Boden für leistbares Wohnen werden immer knapper, neue Wohnviertel wie die Seestadt Aspern werden mit hohen Bebauungsdichten geplant, um einerseits den Einwohnerzuwachs unterzubringen und andererseits die in den inneren Bezirken so erfolgreiche Urbanität schnellstmöglich auf der grünen Wiese zu erzeugen. Kein Wunder, dass der begehrliche Blick hierbei auch auf die Siedlungen auf stadteigenem Boden fällt, die es schon gibt.

Wäre denn in den üppigen Grünanlagen zwischen den Wohnzeilen nicht noch Platz für Neubauten? Nachverdichtung nennt es der Stadtplaner, und auch wenn dies kein schlechtes Konzept ist, mahnen die Ausstellungskuratoren zur Vorsicht: „Es ist schon zu hinterfragen, warum nur dort verdichtet werden soll, wo die Schwächeren wohnen. Warum nicht auch bei den Einfamilienhäusern? Oder in Hietzing und Grinzing?“, fragt Manfred Schenekl provokativ. Seien die Plattenbausiedlungen denn wirklich weniger urban als die Latte-macchiato-Dörfer Neubau und Mariahilf?

Beim Stadtratsbüro gibt man sich zurückhaltend, was die Frage der Verdichtung betrifft. Zunächst gehe es darum, die Siedlungen für die Bewohner nachzubessern. Nur mit dem „Draufpicken von Styropor“ sei es jedenfalls nicht getan. Gemeinschaftsräume, Treffpunkte für Jugendliche und auch Senioren-WGs werden angedacht.

Wie auch immer die Zukunft der Sixties-Peripherie aussieht, es lohnt sich der Ausflug ins Transdanubische. Wer die Ausstellung besucht, muss dafür nicht einmal den ersten Bezirk verlassen. Die Dame mit dem Dalmatiner, das versichert sie, wird sich ihr Zuhause auf Foto und Film jedenfalls genau anschauen.

 

 

Erschienen in: 
Falter 47/2014, 19.11.2014