Hysterie am Karlsplatz!

Ist die Karlskirche in Gefahr? Wie viele Geschosse hat ein Hochhaus? Eine Aufstockung am Karlsplatz sorgt für reichlich Aufregung und wirft Fachbegriffe munter durcheinander.

"Betonklotz! Glasmonster! Turm!" Wenn solche schreienden Buzzwords kursieren, kann man sich sicher sein, dass schon wieder eine Architekturdebatte entbrannt ist. Was war passiert? Folgendes: Ein viergeschossiges Bürogebäude soll um zwei Geschosse aufgestockt werden. Für gewöhnlich nichts, was das Blut hochkochen lässt. Nur handelt es sich hier um einen prominenten Standort, denn das ehemalige Winterthur-Haus der Zürich-Versicherung steht direkt neben der Karlskirche. Der 1971 errichtete Bau soll nun, ebenso wie das benachbarte WienMuseum, in die Höhe wachsen.

Nun kann sich jeder Mensch, der zwei Augen und fünf Minuten Zeit hat, genau hinzuschauen, schnell davon überzeugen, dass es sich bei diesem geplanten Umbau weder um einen Betonklotz, noch um ein Glasmonster, noch um einen Turm handelt. Dies hinderte die Kronen-Zeitung jedoch nicht daran, zum Sturm gegen das Projekt aufzurufen und die von Georg Eltz ins Leben gerufene Initiative "Rettet die Karlskirche" zu unterstützen, die von einer eigenartigen Koalition aus Kirche, FPÖ und dem Sohn des Architekten getragen wird.

Anscheinend hat das Blatt, beim umstrittenen Hochhausprojekt am Eislaufverein fest an der Seite von Turm-Investor Tojner, ein paar hundert Meter weiter plötzlich seine Liebe zum Flachbau entdeckt, und "Kunst-Profi" (O-Ton Kronen-Zeitung) Gerald Matt durfte mit dem atemlosen Slogan "Hände weg vom Hochhaus am Karlsplatz!" weiter zur schiefen Polemik beitragen. Denn ein sechsgeschossiges Bürogebäude, das nicht höher sein wird als die angrenzende Gründerzeitbebauung, ist nun mal kein Hochhaus. Bürgerinitiativen sind eine löbliche Sache, ein verbales Massaker an architektonischen Fachbegriffen ist keine.

Dabei ist das Projekt, wenn man die kreischende Aufregung beiseite schiebt, durchaus diskussionswürdig. Der Karlsplatz war schon immer ein sensibler und umstrittener Ort. An der Aufgabe, diese ausufernde Gegend mit Gebäudekanten einzufassen, sind schon viele gescheitert. Fischer von Erlachs Karlskirche mit ihrer ganz auf Fernwirkung komponierten Fassade, jenseits des Glacis ins Grüne gesetzt, ist eine kapriziöse Nachbarin, der man sich vorsichtig nähern muss. Schon 1900 wurde Otto Wagners Entwurf für das Wien-Museum zum intrigenreichen und jahrelangen Politikum, und auch der Wettbewerb für das Winterthur-Haus, den Georg Lippert 1966 gewann, war von Architekturdebatten begleitet.

Lippert (1908-92) war einer der produktivsten Architekten im Wien der Nachkriegszeit und machte sich mit sachlich-modernen Hochhäusern, nicht selten an Stelle alter fürstlicher Bausubstanz, einen ambivalenten Ruf als "Palaisverwerter". Anders als seine maßstabssprengenden Großbauten wie die heutige Wirtschaftskammer im 4.Bezirk oder das Versicherungsgebäude an der Praterstraße (heute Standort des Hotel Sofitel) war sein Bau am Karlsplatz eindeutig ein Kompromiss. Das merkt man ihm bis heute an. Niedrig und etwas unschlüssig zwischen Oswald Haerdtls Wien-Museum und Kirche geklemmt, versucht es sich in sachlicher Zurückhaltung, verschämt hinter einer unzugänglichen Grünfläche versteckt, blieb jedoch in seiner Fassadenoptik immer ein Fremdkörper. Ein solides und ordentliches Bürogebäude, aber irgendwie am falschen Ort. Der Karlskirche und dem Karlsplatz war mit diesem Kompromiss nicht wirklich gedient.

Verbesserungsbedarf bestand hier also durchaus. Ganz zufriedenstellend ist die Lösung trotzdem nicht. Das liegt nicht am Siegerentwurf des Architekturbüros Henke Schreieck. Dieser verhilft dem über 40 Jahre alten Lippert-Bau auf dezentestmögliche Art zu neuem Selbstbewusstsein, ebenso wie es der Siegerentwurf des Büros Winkler Ruck für das benachbarte WienMuseum vorsieht. Beide halten sich an den vorgegebenen Rahmen des jeweiligen Wettbewerbs, und hier wie dort wird ein mittelmäßiges Gebäude eines guten Architekten in jeder Hinsicht nach oben korrigiert.

Doch hätte man nicht die einmalige Gelegenheit nutzen können, für beide Areale eine komplett neue Lösung anzudenken? Diese Chance kommt jetzt mindestens weitere 40 Jahre lang nicht wieder. Nun gut, vielleicht lautet die Lektion aus Jahrhunderten Stadtgeschichte, dass es schlicht unmöglich ist, den Karlsplatz in den Griff zu bekommen. Kleiner Trost: Die Karlskirche wird auch das aushalten.

 

Erschienen in: 
Falter 42/2016, 20.10.2016