Im stillen Hinterhof des Sports

Nebenan tobt Olympia, bei den Nachbarn in Ostlondon gilt: Ruhe bewahren. Eine Tour entlang der Rückseite der Spiele.

"Das hier", sagt Karen und deutet auf die graugrüne Wasserfläche, "war vor fünf Jahren noch eine Müllhalde, voller Autoreifen und Einkaufswägen." Wir sind beeindruckt. Das Wasser ist ein Arm des River Lea, und dort, wo er hundert Meter vor uns ums Eck verschwindet, sieht man die dürren Dreiecke des Olympiastadions aufragen. Die aschblonde Mittvierzigerin Karen ist unser Guide auf der Tour um den Olympic Park in Londons Osten. Der Altersdurchschnitt der Teilnehmer ist eher hoch, also hat Karen zum Start der zweistündigen Tour ihr "Have you made the most of the toilets?" mit Nachdruck wiederholt.

Die Tour entlang des Olympic Fringe, des Randes des Areals, beginnt auf dem Parkplatz eines Tesco-Supermarkts, zwischen zerfallenden Fabriken und Schnellstraßen, ein passender Ort für eine Erkundung des Hinterhofs von London. Nachdem im 19. Jahrhundert die chemische Industrie aus dem schnell wachsenden Zentrum Londons herausgedrängt worden war und sich hier, acht Kilometer flussabwärts, angesiedelt hatte, wurde das Lower Lea Valley zu einem eher ungesunden Viertel. Hier wurden Tierreste zu Klebstoff und Seife; daneben Strommasten und Kläranlagen, die das Ganze nicht freundlicher machten. Ein viktorianisches Betriebsgebäude kündet noch heute davon, Cathedral of Sewage, Abwasserkathedrale, genannt. Dazwischen versteckte und vergessene Wohnviertel. Ein seltsam wilder Osten, den kaum einer der übrigen Londoner je betreten hat, weit östlicher als das coole East London in Shoreditch.

Um den skeptischen Großstädtern die Gegend schmackhaft zu machen, betonte das Olympia-Komitee von Anfang an, es gehe vor allem um das Danach. Nicht darum, wie in Peking spektakuläre Sportstätten ins Nichts zu klotzen, die später niemand braucht, sondern um ein neues Stück Stadt mit einem Park, der zeitlich und räumlich weit über das Olympiagelände hinausreicht. Mit hohem Aufwand: "1,4 Millionen Tonnen kontaminierter Boden wurden hier entfernt", erklärt Karen.

Stahlgewirr und Stacheldraht

Neben dem gereinigten Grün finden sich noch die immer etwas nach Pappkartons aussehenden typisch britischen Doppelhäuser, gegenüber errichtet Ikea gerade ein eigenes neues Stadtviertel namens Strand East. Zusammenbauen müssen es die zukünftigen Bewohner netterweise nicht selbst. Daneben stehen brandneue Wohntürme, alle Wohnungen sind schon verkauft - dank des privilegierten Stadionblicks direkt am Rand des Parks.

Dieser ist noch schwer bewachte No-go-Zone. Die Sicherheitsbedenken sind allgegenwärtig, Hubschrauber kreisen permanent über dem Olympic Fringe. Nicht weit von hier wehrten sich Bewohner eines Wohnblocks, auf dessen Dach während der Spiele Abwehrraketen stationiert werden sollen. Vergeblich.

Nach Abwehr sieht auch das Olympiagelände aus. Meterhohe Wände, Stacheldraht, Rückseiten. Eine Mischung aus Westjordanland und Berliner Mauer. Am Eingang für Lieferanten ein Schild mit dem schwindelerregenden Euphemismus "Welcome to the Olympic Park Vehicle Screening Plaza". George Orwell hätte seine Freude.

Noch brennt hier kein olympisches Feuer, doch neben dem Stadion ragt eine Art rote Flamme empor, genauer gesagt: ein rotes zerknülltes Stahlgebilde. "Der ArcelorMittal Orbit!", verkündet Karen stolz, das weithin sicht- bare Olympia-Wahrzeichen, vom Künstler Anish Kapoor für Englands reichsten Mann, Stahlboss Lakshmi Mittal, entworfen. Unter den Londonern erntete er weit mehr Spott als Zustimmung. "Wie finden Sie ihn denn?" fragt Karen in die Runde. Auch sie erntet skeptisches Gebrumm. In der Tat, man weiß nicht wirklich, was das wirre Ding soll, das aussieht wie das Resultat eines furchtbaren Unfalls zwischen einer Achterbahn und einem Aussichtsrestaurant aus den 60er-Jahren. "Den Eiffelturm mochte zuerst auch niemand!", versucht Karen die Stimmung zu wenden.

Immerhin: Ein älteres Ehepaar aus der Runde blickt vorfreudig in Richtung Olympiastadion. Sie kommen aus Südwestlondon und haben Tickets für zwei Events ergattert. "Früher dachte man bei uns, diese Gegend hier sei das Ende der Welt", sagen sie. Nach einem Schlenker vorbei an Zaha Hadids breitflügeliger Schwimmhalle endet die Tour, eher antiklimaktisch, in einer Shoppingmall. Das Westfield Shopping Center ist eines der größten Einkaufszentren der Welt und steht wie ein gigantisches Tortenstück zwischen dem schroffen beigefarbenen Massiv des olympischen Dorfes und dem neuen Bahnhof Stratford, von dem aus der Schnellzug Javelin (Speer) in sieben Minuten die City erreicht.

Für die Unbilden im Nahverkehr gewohnten Londoner Grund zur Skepsis. In der Stadt selbst bemerkt man wenige Wochen vor der Eröffnung so gut wie nichts von den Spielen. Nichts außer Werbung für eine Website der Stadtverwaltung mit Tipps, welche Knotenpunkte während der Spiele verkehrsinfarktbedingt zu meiden sind. "Keep calm and carry on", scheint sie zu sagen, wir haben den Blitzkrieg überlebt, wir werden auch das durchstehen.

Das dürfte ihnen sehr gut gelingen, wie man bei der weiteren Erkundung der olympischen Rückseite bemerkt. Station eins: Mile End. Ein England wie aus dem Schulbuch. Im Victoria Park, 500 Meter vom Olympiastadion entfernt, spielt man Cricket und Fußball, ohne Kapoors rotes Stahlknäuel, das über die Bäume lugt, zu beachten. Gegenüber sitzt man in der milchig-fahlen Sommersonne dichtgedrängt vor dem Pub. Im Fish House mit seinen weißen U-Bahn-Fliesen an der Wand herrscht Gedränge. Fahrradkuriere, Nachbarn und Jogger holen sich ihre Kartons mit fetten, dampfenden Stockfischstücken. Londons Osten ist hier von einer fast Miss-Marple-artigen Dörflichkeit. Von Olympia-Hysterie keine Spur.

Station zwei: Bethnal Green. Um 1900 war dieses Viertel einer der ärmsten Slums Londons, Jack the Ripper trieb hier sein Unwesen, in den 1960er-Jahren taten es die berüchtigten Kray-Zwillinge. Zwar geht es heute rapide in Richtung Gentrifizierung, doch noch herrscht auf der Hauptstraße der Vorstadtmix aus Wettbüros und Sozialwohnungen vor. Dazwischen ein trutziges Minichâteau: Das ehemalige Bezirksrathaus, seit 2009 das Town Hall Hotel. Das Büro RARE Architects hüllte den edwardianischen Granitkasten in ein perforiertes goldschimmerndes Metallgewebe. Im Inneren können die Hotelgäste heute auf Emporen im ehemaligen Sitzungssaal dösen.

Entenzungen im Granitkasten

Im Erdgeschoß logiert das Restaurant Viajante, 2011 mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. In fast skandinavisch ruhigem Ambiente kocht der Portugiese Nuno Mendes minimal, frisch und innovativ. An einem der runden Tische sitzt Florian Siepert entspannt vor seiner Entenzungenjause. Der euphorische Kulinarik-Fan, der vor kurzem mit Familie aus Hamburg nach London zog und neben seinem Job als Start-up-Berater unter dem Label Foodtrips Mitmachkochreisen organisiert, wundert sich: "Es ist erstaunlich, wie wenig populär die Spiele bei vielen Londonern sind." Um dem abzuhelfen, veranstaltet er seine eigenen: Die "Supperclub Olympics" im Auftrag des Goethe-Instituts, bei denen man sich an 16 Abenden von hochmotivierten Amateuren aus aller Welt bekochen lassen kann.

Die letzte Station: Hackney Wick. In Kugelstoßwurfweite zum Olympiapark liegt diese Mischung aus Fabriken, Wohnvierteln und Europas größter Dichte an Künstlerateliers wie eine geschützte Insel, ein gallisches Dorf, umringt von den Palisaden des Kommerz. 1866 wurde hier das erste Plastik der Welt hergestellt, heute basteln Schnauzbart-Hipster während des jährlichen Hackney-Wicked-Festivals bunte Happenings.

Herzstück: das wunderbare Café Hackney Pearl, dessen Besucher gerne die ganze Straße besetzen. Das Bier ist ausgezeichnet, die Bedienung freundlich, hier könnte man es zwei olympische Wochen in bohemienhafter Bewegungslosigkeit aushalten.

Wie stellt man sich hier auf die Spiele ein? "Wir werden extra hart arbeiten", sagt die junge Bardame. "Ein bisschen Angst habe ich schon - es kommen zehntausende Leute hier jeden Tag in die Gegend! Aber bald ist es ja vorbei." Und dann geht London wieder seinen Londoner Gang: "Keep calm and carry on."

(erschienen in: Der Standard, 28./29.7.2012)