"Instagram ist wichtiger als das MoMA" - Interview mit Yona Friedman

Er ist ein Realist, der träumt: der Architekt Yona Friedman über Utopien, seine Begegnungen mit Le Corbusier und die digitale Revolution

Kaum eine Skizze symbolisiert den Aufbruchsgeist der 50erund 60er-Jahre so wie die Ville Spatiale, ein federleichtes Raumgitter, über den Straßen des alten Paris schwebend, gefüllt mit bunten bewohnbaren Boxen. Sie wurde nie gebaut, gilt aber bis heute als eine der Ikonen der visionären Architektur. Erdacht hat sie der Architekt Yona Friedman, und zwar nicht als Zeichen der Gigantomanie, sondern als Selbstbau-Architektur für alle. Sein Manifest zur Mobilen Architektur war 1958 seiner Zeit weit voraus -Ideen, die den mittlerweile 95-Jährigen auch heute noch beschäftigen. Vorige Woche wurde ihm in Wien der mit 55.000 Euro dotierte Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst verliehen. Der Falter traf den unverbesserlichen Optimisten bei seinem Besuch zum Gespräch.

 

Herr Friedman, Sie sind seit 70 Jahren Architekt. Woran arbeiten Sie zurzeit?

Yona Friedman: Am Materiellen und am Immateriellen. Die Infrastruktur ist heute immateriell und mobil, und das eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Es ist viel einfacher, mit kleinen, billigen Dingen zu arbeiten und daraus etwas zu bauen. Ein Smartphone, ein Computer, ein Solarpaneel, ein System zum Sammeln von Regenwasser, das genügt schon! Die Mainstream-Architektur ist unverhältnismäßig teuer, das ist unnötig. Heute kann man ein ganzes Haus improvisieren, aus zehn Einzelteilen, von denen jedes nicht mehr als, sagen wir, 150 Euro kostet.

 

Sie haben ein iPad mit dabei. Wie es scheint, sind Sie ganz auf Seiten der digitalen Revolution?

Friedman: Absolut. Heute kann ein Analphabet mit einem Computer umgehen, der nicht mehr kostet als ein Haushaltsgegenstand. Das heißt für mich als Urbanisten, dass eine Stadt heute viel weniger harte, teure Infrastruktur braucht und sich vielmehr aus kleinen, billigen Dingen zusammensetzt. Das Zubehör zum Leben in Städten sollte nicht mehr kosten als ein Kühlschrank.

 

Ihre berühmten Zeichnungen für die über der Stadt schwebende Ville Spatiale sind heute im Besitz des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Freut Sie das, oder stört Sie diese Musealisierung?

Friedman: Natürlich freut es mich. Aber es ist mir nicht wichtig. Museen wie das MoMA oder das Centre Pompidou sind inzwischen überholt. Instagram ist heute wichtiger. Als ich auf der Kunstbiennale von Venedig meine improvisierten Strukturen zeigte, war das sofort auf Instagram und wurde von mehr Leuten gesehen als Zeichnungen, die im MoMA hängen. Wir leben in einer Ära der offenen Türen, und die sozialen Medien sind Teil dieser Entwicklung. Alles wird vernetzt. Ein Beispiel: Ich werde oft gefragt, was meine politischen Ideale sind. Meine einfache Antwort darauf ist: Das Modell dafür bin ich selbst! Ich bin ein Staat aus 100 Millionen Zellen. Da gibt es keine zentrale Regierung. Es gibt spezialisierte Organe, aber alles hängt von der Zusammenarbeit zwischen den Bewohnern ab. Diese Kooperation kann man nicht von oben dirigieren.

 

1975 haben Sie das Manifest "Utopies Réalisables" publiziert, und kaum ein Begriff wurde öfter mit Ihnen assoziiert als die Utopie. Fühlen Sie sich damit richtig beschrieben?

Friedman: Ich glaube nicht an Utopien, sondern an den Realismus. Vielleicht wird in 50 Jahren die Telepathie erfunden. Aber heute gibt es sie eben noch nicht, also plane ich sie auch nicht ein. Ich arbeite in der Gegenwart. Deshalb bin ich auch ein Optimist. Die Gegenwart kann man formen, man kann sie beeinflussen. Ich glaube an das Gute im Menschen, auch wenn es in den sozialen Medien oft nicht danach aussieht. Das liegt aber daran, dass die Menschen mit den falschen Bildern beliefert werden. Die Amokläufe an amerikanischen Schulen wären ein Beispiel dafür. Die Menschheit als Kollektiv will Frieden und Stabilität. Deshalb bin ich Optimist.

 

Und Ihre Aufgabe als Architekt ist es, diesen Optimismus zu stärken?

Friedman: Ja. Für mich bedeutet das, so wenig wie möglich einzugreifen. Letztes Jahr habe ich in Kopenhagen mit Studenten gearbeitet, die eine Konstruktion spontan improvisierten. Ich habe nur zugeschaut. Ich bin überzeugt, dass Architektur eines Tages wieder zu einer Volkskunst wird -und dass es gerade die neuen Technologien sind, die das ermöglichen werden.

 

Sie sind vor den Nationalsozialisten aus Ungarn geflüchtet, haben in Israel gelebt und sich dann in Paris niedergelassen. 1958 haben Sie ihr Manifest "Mobile Architektur" veröffentlicht. Hat die Erfahrung der Emigration Ihre Philosophie geprägt?

Friedman: Ich denke schon. Ich habe mich nach jeder Emigration ohne große Probleme zurechtgefunden. Das lag daran, weil mich schon als Schuljunge alles interessiert hat. Physik, Biologie, Soziologie. 1941 hörte ich in Budapest einen Vortrag des Physikers Werner Heisenberg. Er sprach über Goethes Farbenlehre als richtungsweisend für die Physik. Stellen Sie sich das vor, jemand wie Heisenberg zitiert Goethe und kritisiert die klassische Physik! Das hat mich als 18-Jährigen völlig umgeworfen. Das versuche ich auch heute jungen Studenten zu vermitteln.

 

Sie meinen interdisziplinäres Denken?

Friedman: Ja. Das große Problem ist, dass Architekten heute zu Spezialisten ausgebildet werden, dabei ist Allgemeinwissen viel wichtiger. Wissen Sie, was die größte Erfindung der Menschheit ist? Nicht die Wand oder das Dach, sondern die Tür! Alles ist miteinander verbunden. Ich sage meinen Studenten immer: Ich schlage euch nicht ein Objekt vor, das ihr bauen sollt, sondern eine Denkweise. Wie ihr diese umsetzt, liegt an euch.

 

Sie haben in Paris Le Corbusier getroffen. Hat er Sie beeinflusst?

Friedman: Er war ein großer Architekt und Künstler. Aber er kam aus einer anderen Zeit als ich. Als ich 1949 nach Paris kam, bat ich ihn um ein Rendezvous, und er hat es mir gewährt. 1957 traf ich ihn wieder und zeigte ihm meine Pläne für Mobile Architektur. Er sagte zu mir: "Ich würde so etwas nie machen. Aber Sie müssen es tun!" Daraus habe ich gelernt, wie wichtig es ist, nicht nur berühmten Leuten eine Audienz zu gewähren, sondern auch den unbekannten. Es ist eine moralische Verpflichtung.

 

Sie leben in Paris, einer Stadt, die inzwischen zu einem teuren Open-Air-Museum geworden ist. Paris brauchte Ihre Ville Spatiale mehr denn je.

Friedman: Die weitere Verdichtung der Stadt zu einem Grand Paris, wie es gerade umgesetzt wird, halte ich für einen Fehler. Paris ist heute ein Vorort von London und umgekehrt. Wir müssen weg von der zentralisierten Stadt und hin zu einem Netzwerk städtischer Dörfer.

 

Von der Ville Spatiale zur Monde Spatiale also?

Friedman: Genau! Sehen Sie hier, das ist eine Zeichnung, die ich gerade für meinen Vortrag in der Kiesler-Stiftung angefertigt habe. Sie heißt "Biosphere - The Global Infrastructure". Das beantwortet auch Ihre Frage, woran ich zurzeit arbeite!

 

Zur Person: Yona Friedman wurde 1923 in Budapest geboren. Während des Zweiten Weltkriegs floh er aus Ungarn nach Israel, später ließ er sich in Paris nieder. 1958 wurde er mit dem Manifest zur Mobilen Architektur und Raumstadtkonzepten berühmt, später lehrte er in den USA. Er lebt und arbeitet in Paris.

 

Erschienen in: 
Falter 24/2018, 13.06.2018