Südliche Sinnlichkeit aus Stahl

Die Ausstellung "Loose Ends" in Innsbruck entdeckt das radikal regionale Werk der 62-jährigen sizilianischen Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo

Azurblaues Meer, gleißendes Licht, Zitronenhaine, pittoresk abblätternder Putz in Gässchen, die nach frischem Süßgebäck duften. Nicht nur zur Urlaubszeit der Stoff, aus dem Träume von Sizilien gemacht sind. Dass die süditalienische Insel auch ganz andere Assoziationswelten hervorruft, dessen kann man sich zurzeit im Innsbrucker aut. (Architektur und Tirol) vergewissern, und das mit allen Sinnen.

Schwarze Wände, ein tiefer Stahltank, in den eine so steile wie fragile Metallstiege dunkel abtaucht, um über einer Spiegelfläche aus schwarzem Öl zu enden. Über einem anderen Schacht klappt ein stählerner Deckel langsam auf und zu und lässt oranges Licht aus einem Spalt hervor scheinen. Aus einem dritten klingt leises, schwer zu verortendes Wellensittichgezirpe.

Es ist eine Architekturschau der anderen Art, die maßgeschneidert ist für das postindustrielle Ambiente des ehemaligen Adam-Bräu-Kesselhauses. Keine Hochglanzposter, sondern ein sinnliches Bühnenbild für die Arbeitsmethodik einer eigensinnigen Frau: der Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo.

Geboren 1952 im sizilianischen Vittoria, arbeitete sie nach dem Studium in Rom für Fiat in Turin, bevor sie 1986 ihr eigenes Büro gründete. Seither baut sie konsequent nur
in ihrem eigenen Umfeld. Alle ihre Bauwerke entstanden auf der Insel. Es sind nicht viele, die meisten für private Auftraggeber.

Sie arbeitet meistens allein, und das 365 Tage im Jahr. Die Bilder, die man von "MGGC" - so das praktische Kürzel, das sie auch selbst verwendet - sieht, zeigen sie auf der Baustelle, die Zigarette immer in der Hand. Ihre Bauten sind keine wiedererkennbaren Markenzeichen, sie sind jedoch alle geprägt vom rauen sizilianischen Südosten mit seiner Ölindustrie und seinen Häfen. Nicht wenige von ihnen sind Ferienhäuser, auch sie fern von jeder verputzten Lieblichkeit.

So etwa das kleine Hofgebäude, das sie 2002 einer fünfköpfigen Familie für deren Feriendomizil in einem alten Fischerhaus in Scoglitti maßschneiderte. Anstatt die Schlafräume aneinanderzureihen, stapelte sie einfach Betten und Bettkojen in einem Turm aus Sichtbeton übereinander. Wie hölzerne Schubladen schwebt Kinderbett über Kinderbett über Elternbett, mit blechdünn gefalteten Stiegen verbunden. WC und Duschen stapeln sich daneben, in ähnlicher Offenheit, und das Raumpuzzle mutet an wie eine Mischung aus Jugendherberge und japanischem Minihaus.

Eine ähnliche Stapelarbeit schuf Grasso Cannizzo 2008 mit ihrem Kontrollturm am Hafen von Marina di Ragusa, dessen drei perfekt proportionierte Kuben in ein Gerüst aus rotem Stahl eingepasst sind – von unten nach oben: Segelklub, Wohnung, Hafenbüro. Dort, ganz oben, darf der hoffentlich schwindelfreie Hafen-Supervisor von Marina die Ragusa durch den Glasboden direkt aufs unter ihm wogende Mittelmeer blicken.

Für unsere klischeeverwöhnten Augen ein gänzlich unitalienisches und unsüdliches Ensemble, mit kühlem, klarem Strich gezeichnet, und in seinem unverzierten Nebeneinander- und Aufeinanderstellen verschiedener Materialien eher an die belgischen Bricolage-Frechdachse von de Vylder Vinck Taillieu erinnernd als an barocke Sinnesfreuden-Architektur Marke Bella Italia.

Das wohl bekannteste, technisch raffinierte, sinnlich alle Stücke spielende Werk von Frau MGGC ist das Ferienhaus FCN, das einsam in den Olivenhainen von Noto steht und das 2012 mit dem RIBA Award ausgezeichnet wurde. "Es greift das typische Element mediterraner Ferienhäuser auf, deren Fensterläden entweder völlig geschlossen oder ganz offen sind, je nachdem, ob sie gerade bewohnt sind", erklärt aut-Leiter Arno Ritter.

Nur begnügte sich MGGC nicht mit dem Designen von Fensterläden: Hier fungiert der ganze Gästetrakt als Fensterladen: Die mit Bootssperrholz verkleidete Box kann sich – inklusive Badezimmer – zu Urlaubsbeginn von der Fensterfront zur Seite schieben lassen, um von dort den Meerblick freizugeben. Vor der Abreise rollt sie per Kurbeldreh wieder zurück.

Boxen aus Holz, die sich herumschieben, aufklappen und öffnen lassen, finden sich immer wieder in diesen Bauten, ob als Stauraum in einem Dachboden oder als Teile von Fassaden. Schließlich ist die Architektin keine, die den Bewohnern ihrer Häuser auf die Finger haut, wenn der Ficus an der falschen Stelle steht oder der Ikea-Flokati über dem edlen Geländer auslüftet. "Sie freut sich, wenn die Bewohner sich das Haus aneignen und es verändern," sagt Arno Ritter, "auch darum hat sie die Ausstellung Loose Ends genannt.

Grasso Cannizzo selbst beschreibt ihre Methodik mit dem Sammeln, Ordnen und Beschreiben von Papierblättern, die sich nach und nach mit Inhalt füllen.  "Die Blätter sind nun dem Lauf der Zeit ausgesetzt, den Bewohnern und dem Einwirken unvorhersehbarer Bedingungen, sie werden zerknüllt, gefaltet, geklebt, zerrissen, gelöchert, geschnitten. Das Papier akzeptiert seine eigene Vergänglichkeit, zerfällt am Ende seines Lebens in Bruchstücke, bildet neue weiße Blätter, die dazu verwendet werden können, einem neuen möglichen Projekt Form zu geben."Dies kann der Besucher der Ausstellung spielerisch nachvollziehen, denn der Katalog ist als Lose-Blatt-Sammlung angelegt, deren Reihenfolge sich wie bei Spielkarten mischen lässt.

Und was hat es jetzt mit dem Öl, dem Feuer und dem Vogelgezwitscher auf sich? Gut, das Feuer ist leicht dem Ätna zuzuschreiben, der das östliche Sizilien zum instabilen Territorium macht. Die anderen beiden sind autobiografischer Natur: Sie evozieren das Arbeitsumfeld der 62-jährigen Architektin.

Der Steinboden in ihrem Haus ist, wie in der Gegend traditionell üblich, aus ölhaltigem Stein – mit dem entsprechenden schweren Odeur. "Dieser Geruch ist in dieser Gegend Bestandteil der Gebäude und der Landschaft", sagt Arno Ritter, der Grasso Cannizzo besucht hat. Und die Wellensittiche – ein gutes Dutzend – untermalen aus ihrer Voliere den Arbeitsalltag der Architektin.

Wie genau und beharrlich sie in diesem ölig-idyllischen Umfeld arbeitet, sieht man daran, dass sie sich für die Konzeption der Innsbrucker Ausstellung ein Jahr freinahm. So entstand daraus ihr erstes sizilianisches Projekt außerhalb Siziliens.

Erschienen in: 
Der Standard, 12./13.7.2014